Zu spät
Als ich in die Wohnung gekommen war, war es schon wieder zu spät gewesen. Das Licht hatte gebrannt und ich konnte seinen Schatten in der Küche umhergehen sehen. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass ich die Zeit vergessen oder zufällig den längeren Heimweg durch den stummen, doch hell beleuchteten Bezirk genommen hatte. Er hätte damit klarkommen sollen, schließlich waren wir beide erwachsen, doch ich hatte mir die Schuld gegeben. Im Nachhinein ist man aber immer schlauer. Mein größter Fehler jedoch war gewesen, es nicht beendet zu haben, als ich noch gekonnt hätte, denn jetzt war mir jemand … oder etwas zuvorgekommen.
An diesem Abend war an sich nichts besonders gewesen, außer dass ich wieder spät dran war. An diesem Abend hatte ich sogar einen guten Grund gehabt. Ich war noch im Geschäftsviertel gewesen, um eine neue Version des KI-Updates in B.O. zu installieren. Eine Notwendigkeit, da die Frist in ein paar Tagen abgelaufen wäre und ich nicht wollte, dass mir B.O. schon wieder wegen eines Update-Versäumnisses von der Abteilung für Begleitroboter gesperrt wurde. Doch trotzdem war er sauer geworden. Es ist nicht so, als hätte er nicht gewusst, was das letzte Mal geschehen war als ich B.O. nicht hatte: Er musste meine Schwester, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte und die auf der anderen Seite des Bezirks wohnte, anrufen, weil sie die einzige war, die für mich in Gebärdensprache übersetzen konnte.
Mit B.O. war alles viel leichter gewesen. Als das Behinderten-Begleitungs-Programm eingeführt worden war, hatten meine Eltern und Freunde mich praktisch dazu gedrängt, mir den Chip in mein Gehirn einzupflanzen zu lassen, nur damit B.O. meine Gedanken übersetzen konnte und sie sich nicht auf meine Bedürfnisse einstellen mussten. Doch was hatte ich für eine Wahl gehabt – sie hätten sich nie geändert. Ich musste mich an sie anpassen, nicht andersherum. Ich kann es mir auch nicht erklären. Ich war noch nie ein gewalttätiger Mensch und B.O. war nur ein Begleitroboter … mit Zugang zu meinem Gehirn. Aber ich war zu spät und er war sauer gewesen. Ich kannte ihn, ich hätte es wissen sollen.
Wir waren zusammen im Dorf meiner Kindheit aufgewachsen. Gleiche Schulen, Hobbies, Leben. Keiner dort war individuell. Das war vor der Revolution gewesen, denn jetzt gibt es diese Stadt nicht mehr. Genau wie sie war sein Herz nach einiger Zeit verschwunden. Ich konnte mich nicht an Nichts festklammern, also ließ ich meinen Griff immer lockerer werden. Ich war immer öfter zu spät gekommen. Als Kinder waren wir Freunde gewesen, weil unsere Eltern zusammengearbeitet hatten, doch als wir älter wurden, waren wir einander wirklich nähergekommen. Er war der einzige, der Rücksicht auf mich genommen hatte, er las, was auf den Zetteln stand, die ich ihm gab, anstatt zu reden. Er sprach immer langsam, damit ich ihn verstand, aber er hatte sich nie die Mühe gemacht, Gebärdensprache zu lernen. Ich glaubte nicht, dass es wahre Liebe war, aber es war besser, als für immer allein zu sein.
Dann fing ich an, zu spät zu kommen. Seine Angst verwandelte sich immer öfter in Zorn. Er brüllte mich an, sodass ich seinen Atem und die Vibration seiner Stimme in meinem Gesicht spürte, und er achtete nicht mehr darauf, dass ich seine Lippen lesen konnte. Er machte mir alle möglichen Vorwürfe, nur um einen neuen Streit anzufangen, den er dann damit beendete, dass es „immer alles seine Schuld“ sei und er mich allein in der Küche stehen ließ.
Ich weiß nicht, ob es etwas an mir war, das es ausgelöst hatte, oder dieses beschissene Update. An diesem Tag kam ich zum letzten Mal zu spät. Ich lag richtig damit, dass er schon in der Küche auf mich wartete. Ich hätte bemerken müssen, wieviel Groll sich in ihm aufgestaut hatte.
An viel kann ich mich nicht erinnern. Als ich durch die Tür der Wohnung hereingekommen war, fing er sofort an, energisch auf mich einzureden. Ich konnte ihn nicht verstehen, nur Fetzen von zusammenhängenden Worten, die seine Lippen viel zu schnell formten: „Wo … du … scheiße … verrückt … ich … Sorgen … wie … weitergehen.“ Ich ließ es über mich ergehen, doch hatte ich nicht darauf geachtet, ob B.O. auf die Ladestation gefahren war. Alles, was ich mitbekam, war, dass er plötzlich aufhörte mich anzuschreien und mich mit aufgerissenen Augen anstarrte. Aber als er zu Boden geglitten war, sah ich B.O. mit etwas Rotem überdeckt, sodass seine Augen-Kamera, die die Frau im Elektronikgeschäft, bevor ich ging, noch geputzt hatte, nicht mehr zu erkennen war. Dann war alles rot und es hörte nicht auf. Und ich rannte davon. Nicht vor B.O. Nicht vor ihm. Ich rannte, bis ich die Seite des Bezirks erreichte, auf der meine Schwester wohnte. Ich rannte zu ihrer Wohnung und versuchte, ihr mit zitternden Händen zu erklären, was passiert war. Sie nahm mich nur in den Arm und streichelte mein Haar. Es war eine Entschuldigung: „Es tut mir so leid, dass ich dich mit ihm allein ließ und es so weit kommen konnte.“
Es war nach Mitternacht, als der Krankenwagen seinen schwachen Körper aus der Wohnung brachte und ich und meine Schwester zum Polizei-Revier fuhren, damit ich die ganze Geschichte erzählen konnte. Die nächsten Stunden waren wie ein alter, verblasster Film einer Kamera aus den 2000ern, kalt, trübe, kaputt. Später im Warteraum, als meine Schwester kurz zum Laden gegangen war, kam mir das erste Mal klar der Gedanke, den ich vorher die ganze Zeit unterdrückt hatte: Ich war es gewesen. B.O. hatte auf meine Gefühle reagiert. Meine Mordlust, die ich seit Jahren verspürt hatte. Doch ich wollte mich wohl belügen, denn mein Kopf wollte immer noch alles auf dieses beschissene Update schieben. Ich werde nie mit Sicherheit wissen, ob es B.O. oder ich ganz allein gewesen war. Also schalte ich mein Telefon ein und sah die Meldung über die 54 anderen Fälle von durchgedrehten Begleitrobotern.