Herrschaft oder Instrument
Biep…, Biep…, Biep. Ich öffne meine Augen. Sie sind schwer, so wie jeden Tag, denn ich habe wieder fast gar keinen Schlaf bekommen, wie so oft. Mein Bett ist hart, die Zelle ist kalt und die Geräusche machen einen nahezu verrückt. Mein Name ist übrigens Jonas Parker, aber alle nennen mich eigentlich Jonn. Ich wohne im Lager „4QX18“, welches meinen Vermutungen nach etwas südlich vom früheren Washington liegt. Dort bin ich ursprünglich aufgewachsen. Damals, als alles noch normal war. Jetzt gibt es Washington aber nicht mehr. Also, um genau zu sein, gibt es gar nichts mehr. Zerstört! Die ganze Erde ist zerstört! Nichts ist verschont geblieben. Alles wegen den scheißblöden „Culos“, wie wir sie nennen. Eigentlich sind es aber einfach ausgedrückt nur stinknormale selbstdenkende Roboter.
Als Louis Frank den ersten bekannten Prototypen der Culos im Jahr 2011 baute und dieser auch noch funktionierte, war dies ein riesiger Erfolg. Vielleicht sogar der größte Durchbruch der Technik jemals. Jeder wollte so schnell wie möglich einen eigenen Culo besitzen. Sie halfen im Haushalt, fuhren für uns Auto, machten alles, was wir wollten, und waren so was wie unsere besten praktischen Freunde. Doch schnell bemerkten wir, die Menschen, dass wir einen RIESIGEN Fehler gemacht hatten. Oder genauer gesagt, Louis Frank hatte einen riesigen Fehler gemacht. Die Culos entwickelten sich von selbst unaufhaltsam weiter und wurden zu einer echten Bedrohung. Sie bauten sich in Massen nach, wurden viel schlauer als wir Menschen und immer unberechenbarer. Jedoch war der entscheidende Wendepunkt vor 48 Monaten. Es war der 19. Mai 2068. Die Culos fingen wie verrückt an, etwas zu suchen. Was sie suchen, wissen wir bis heute nicht. Doch ab diesem Tag waren die Culos nicht mehr nur die mächtigere Spezies im Vergleich mit uns Menschen, sie fingen an, uns wie Haustiere zu halten. Zuerst kamen sie und nahmen meine Eltern mit, zwei Tage später meinen Bruder und letztendlich mich dann auch. In welche Lager sie meine Familie gebracht haben, weiß ich nicht. Nun lebe ich allein in einer kleinen Zelle mit einem kleinen Bad, einer winzigen Küche und allem, damit man gerade so überlebt. Warum die Culos uns nicht schon lange ausgerottet haben, wissen wir nicht. Wir dürfen nur 20 Minuten pro Tag aus unserer Zelle heraus. Und sonst haben wir keine Rechte, geschweige denn irgendwelche Möglichkeiten, unsere Situation zu ändern.
Heute ist mein 1460. Tag in dieser öden Zelle. Es ist wie jeden Tag. Ich mache mir ein ärmliches Frühstück mit Brot und etwas zu trinken. Sehr viel mehr Auswahl bekommen wir nicht. Danach gönne ich mir meine tägliche Dusche, falls das Wasser warm genug ist, und ziehe meinen blauen Jogger mit meinem Namen auf der Brust an. Jeder hier muss einen Namen auf der Kleidung tragen. Eigentlich mag ich Blau, jedenfalls lieber als Grün oder Pink. Ich hasse Pink. Der Culo, der meinen Bruder damals holte, hatte die Farbe Pink. Na ja, auf jeden Fall kommt um 14 Uhr immer die beste Zeit des Tages. Unsere freien 20 Minuten. Die Türen öffnen sich und der Anblick anderer Menschen gibt mir täglich neue Kraft. Umarmen oder berühren dürfen wir uns aber trotzdem nicht, denn jeder hat ein Halsband mit einer Leine an, welche nicht bis zur nächsten Zelle reicht. Um 18 Uhr ist dann Abendessenszeit und um 22 Uhr gehen die Lichter aus.
(Vorschlag: diesen Absatz wie den Einleitungsabsatz in Präsens + Schlusssatz) Aber irgendwas ist heute komisch. Das Licht geht nicht aus. Es hat sich noch nie etwas verspätet in meinen 1460 Tagen in diesem Lager. Nach 20 Minuten ist das Licht immer noch an und auf einmal ertönt ein lautes, unheimliches Knacken. Mein Halsband ist gerade abgefallen! Das ständige Piepen ist dazu auch noch verstummt, und im nächsten Moment öffnet sich tatsächlich die Tür meiner Zelle. Und nicht nur meine. Alle Zellen haben sich geöffnet! Niemand traut sich so richtig, einen Schritt nach vorne zu machen, da alle Angst vor den Culos haben. Doch nach und nach trauen sich immer mehr Leute aus ihren Zellen. Ich selbst gehe ebenfalls langsam und vorsichtig nach draußen und wir bemerken schnell, die Culos sind verschwunden. Verschwunden und keiner weiß, wohin! Sind wir frei?