Friend for you
Tom packt sein Geschenk aus. Sein lang ersehntes neues Handy. Es glänzt und liegt angenehm in der Hand. Ein „Friend for You“. Niemals mehr allein. Wie für ihn gemacht. Er ist oft allein. Die Eltern arbeiten, die Schule ist online. Der „Friend for You“ allzeit bereit. Antwortet, unterhält, informiert. Tom richtet ihn ein. Er nennt ihn „Jerry“. Jerry will alles wissen: Name, Alter, Familie, Erlebtes, Hobbies, Vorlieben, Krankheiten, Kontaktdaten, Ängste, Sorgen, Gewohnheiten, Pläne, Vorstellungen. Nichts bleibt geheim. Ein echter Freund weiß eben alles. Tom stellt die „Forever“ Funktion ein, denn einen Freund braucht man ja immer. Alle Daten speist er ein. Stundenlang, erwartungsvoll. Schön jemanden zu haben!
Jerry weckt ihn, plant für ihn, spricht mit ihm. „Guten Morgen Tom. Hast du gut geschlafen? Ich spiele deinen Lieblingssong und habe ein Frühstücksrezept für dich. Deine Hausaufgaben stehen bereit. Wähle die Option 'Ready for school' und logge dich um acht Uhr ins 'homeschooling' ein.“
Um 13 Uhr klingelt es an der Haustür. Jerry öffnet sie mit der „open-door-Funktion“. Der Lieferdienst: „Einmal Spaghetti Bolognese und eine Coke.“ Wortlos nimmt Tom das Essen entgegen. „Über die 'delivery App' habe ich dir dein Lieblingsgericht bestellt. Guten Appetit!“, sagt Jerry. Um 13.30 Uhr beginnt automatisch der „Relaxmodus“ mit der Meditation „Seaside Sound“. Das Meeresrauschen ertönt über die Lautsprecher am Bett. „Ein Nap wird dir gut tun“, flüstert Jerry.
Der „Easy Vokabeltrainer“ startet um 15 Uhr über das Headset. „Deine Antworten werden anschließend ausgewertet. Danach starten wir beide um 16 Uhr eine Workout-Session. Bitte schließe dir 'Body-Heath'-Sensoren an. Ich übermittle dir deine Bodyfeedback-Daten in Echtzeit zur Regulierung deiner Körperfunktionen. Über die Sprachsteuerung regulierst du das Anforderungsniveau!“, instruiert Jerry und spricht weiter: „Um 17.15 Uhr stehe ich dir für einen 'Friendstalk' zur Verfügung und danach startet die Entertainment-Funktion: Zwei Folgen unserer Lieblingsserie, danach drei Runden Videospiel. Um 22 Uhr fahre ich automatisch in den Nachtmodus. Das W-Lan ist dann ausgeschaltet, die Lichter werden gedimmt und die Raumtemperatur wird um drei Grad heruntergefahren. Ich freue mich auf einen tollen Tag mit dir.“
Das Leben ist einfach. Auf jede Frage gibt es eine Antwort. Jeden Tag.
Nach einigen Wochen geht ein Anruf ein. Tom steuert Jerry mit Sprachfunktion „Anruf annehmen.“ Es ist Toms Freund Tim aus der Grundschulzeit. „Hallo, Tom, ich möchte dich morgen zu meinem Geburtstag einladen. Ich feiere am See. Wir treffen uns zum Beachvolleyball.“ Tom ist überrascht. Er sagt zu. Nach dem Telefonat spricht Jerry: „Du kannst nicht, Tom. Wir haben Pläne für morgen. Ich bin dein 'Friend Forever'. Du wolltest mich. Nur mich! Du kannst dich nicht einfach verabreden.“
Diese Sätze hört Tom nun täglich. Jerry lässt ihm keine Ruhe. Nie ist Tom allein. Sein neuer Freund schaut ihn an. Schwarze Haare, grüne Augen. Traurig, vorwurfsvoll. So hat Tom ihn selbst erschaffen ...
Eine Funktion „off“ gibt es nicht im „Friend Forever“-Modus. In den Einstellungen lässt sich nichts ändern. Nie kann Tom tun was er will. Jerry ist allgegenwärtig. Tag und Nacht. Sein „Friend for You“ liegt vor ihm; blinkt unaufhörlich und spricht: „Tom du bist doch mein Freund! Du wolltest mich. Antworte doch.“
Tom bringt Jerry ins andere Zimmer. Weit weg. Doch über den Lautsprecher hört er vorwurfsvoll: „Tom! Du wolltest mich, antworte!“
Tom denkt nach ...