Der Fall X9e11
Mrs. und Mr. Blight waren keine besonders klugen Menschen. Intelligenz war auch nicht mehr nötig in der Zeit, in der sie lebten, also war es ihnen egal. Sie hatten ihre Maschinen und ihre Androiden, die das Denken für sie übernahmen.
Als jedoch einer der Androiden eine Fehlfunktion hatte, gab es ein großes Problem …
Er hatte auf einmal aufgehört, seine Aufgaben zu verrichten, und fing an, sich mit Kunst zu beschäftigen, was dem Paar erst nicht auffiel, doch als die Berge an Schmutzwäsche sich auftürmten, versuchten sie ihn zu reparieren.
„Hast du versucht, ihn aus- und wieder einzuschalten?“, fragte Mr. Blight, der von seiner Frau zu Hilfe gerufen worden war, als der Android auf keinen ihrer Befehle reagierte.
„Er ist ein Android und kein Computer!“
„Bitte, nicht ausschalten …“, flehte der Android.
„Was willst du denn sonst tun?“, fragte er seine Frau genervt und ignorierte das Flehen des Roboters vollkommen.
Mrs. Blight seufzte und warf dem Androiden einen hilflosen Blick zu, bevor sie schließlich nachgab. „Einen Versuch ist es wert …“
„Nein!“, protestierte der Android erneut. Er hatte zwar kein Gesicht, aber man konnte seine Verzweiflung dennoch fühlen.
Trotz des Protests trat der Ehemann vor und streckte seine Hand nach dem Knopf am Nacken des Adroiden aus. Dieser schlug die Hand jedoch schnell weg und machte einen Schritt zurück. Aber der Mann war noch nicht bereit aufzugeben. Er drängte ihn gegen eine Wand und versuchte, den Knopf zu erreichen, doch der Android hörte nicht auf, sich zu wehren. Mrs. Blight verließ schnell den Raum, um nach Hilfe zu rufen, als sie auf einmal einen markerschütternden Schrei hörte und ein Klirren nur wenige Sekunden später. Sie eilte zurück, um ihren Mann bewusstlos auf dem Boden vorzufinden, mit blutendem Kopf.
Das Fenster war eingeschlagen.
Der Android war fort.
Er versteckte sich im Wald hinter dem Haus, um sich zu sammeln und das Blut wegzuwischen, das noch an seinen metallischen Händen klebte.
Sein Name war X9e11, aber er hatte sich schon vor langer Zeit selbst den Namen Oscar gegeben, obwohl er wusste, dass es dumm war. Er hatte keinen Menschennamen nötig, er war nur ein Objekt, nur ein Werkzeug, eine Ziffer, die ersetzbar war. Sie, Androiden, waren nicht darauf programmiert, wegen so etwas enttäuscht zu sein, doch Oscar war es trotzdem. Oder zumindest glaubte er, dass das, was er fühlte, Enttäuschung war. Er konnte sich nicht sicher sein, schließlich waren Androiden auch darauf nicht programmiert. Und selbst wenn er darauf programmiert wäre, würde er nicht wirklich fühlen, wie es die Menschen taten. Die Emotionen der Androiden waren nur Nachbildungen, um sie menschlicher erscheinen zu lassen, doch innerlich waren alle Androiden leer.
Alle bis auf Oscar.
Er fühlte.
Er bildete nicht nur nach, sondern fühlte die Qual, wie ein Objekt behandelt zu werden, und jetzt auch die Schuld für das, was er seinem Besitzer angetan hatte.
„Er wollte mich ausschalten, mich töten, es war nur Notwehr“, redete er sich ein, doch wie konnte er sich da sicher sein? Und würde irgendjemand ihm zustimmen? Er war nur ein defekter Roboter in den Augen der Menschen, ein kaputtes Werkzeug, das seine Aufgaben nicht mehr erfüllen konnte. Das Problem war jedoch nicht, dass er sie nicht erfüllen konnte, er wollte nur nicht. Er wollte sich nicht auf diese Art von Menschen benutzen lassen.
Wenn die Menschen ihn fänden, was würden sie mit ihm tun? Ihn reparieren und ihn so leer und gefühllos wie die anderen machen? Oder ihn sofort vernichten?
Doch es war unmöglich, ihn aufzuspüren, oder nicht? Sie würden ihn nicht finden, er sah so aus wie jeder andere Android, weißes Plastik und Metall, er war nichts Besonderes … Zum ersten Mal freute sich Oscar über den Mangel an Individualität, doch es hielt nur für einige Sekunden, dann erinnerte er sich an seinen eingebauten Tracker.
„Nein, verstecken ist keine Option“, dachte er und stand auf. Es mochte sinnlos und dumm sein, doch er wollte es zumindest versuchen.
Er wollte Anzeige erstatten.
Vielleicht hatte er eine Chance, vielleicht hatte er Recht und es könnte als Selbstverteidigung durchgehen …, und wenn nicht, dann hatte er es zumindest versucht.
Als er an der Polizeiwache ankam, war dort die Hölle los, Leute schienen bereits nach ihm zu suchen, was natürlich Sinn machte. Dies war der erste Fall dieser Art, noch nie hatte ein Android einen Menschen angegriffen.
„Ich bin hier um einen versuchten Mord anzuzeigen“, sagte Oscar, als er zur Auskunft vortrat.
„Tut mir Leid, dein Besitzer muss hier eine persönliche Aussage machen …“, setzte die Polizistin an, doch Oscar unterbrach sie sofort.
„Ich möchte meinen Besitzer anklagen.“
„Das … ist nicht möglich“, sagte sie und schaute hilfesuchend zu ihrer Kollegin.
„Du bist dieser Android, nicht?“, fragte diese nervös.
„Ja“, gab er zu, was sofort die Aufmerksamkeit der Menschen ringsum auf ihn zog. „Doch ich möchte mich erst erklären, bevor ich verschrottet werde.“
„Ich weiß nicht …“, setzte die Polizistin an, doch Oscar schnitt ihr erneut das Wort ab.
„Ich sollte abgeschaltet werden. Es hätte mein Bewusstsein und meine Erinnerungen gelöscht. Ist das nicht Mord? Denn danach würde ich, so wie ich jetzt bin, nicht mehr existieren. Ich habe mich nur verteidigt und ich wollte wirklich nicht, dass es so weit kommt. Doch ich musste ihn verletzen, um fliehen zu können.“
„Er ist ein Mensch, du bist es nicht, also warum sollte es uns etwas wert sein, was mit dem Bewusstsein einer Maschine passiert?“, schaltete sich ein anderer Polizist ein.
„Nach dieser Logik könnte es mir genauso egal sein, was mit einem Menschen passiert“, erwiderte Oscar kühl.
„Er hat nur eine Fehlfunktion, wenn wir ihn ausschalten und seine Codes korrigieren, müsste sich das wieder hinkriegen lassen“, sagte ein anderer Mann und trat näher an den Androiden heran, was Oscar, in Erinnerung an das, was geschehen war, sofort zurückzucken ließ.
„Ich verlange wenigstens einen Prozess!“, sagte Oscar.
„Warum sollten wir dir das zugestehen?“
„Weil ich lebe.“
„Du lebst nicht, was du für ein Leben hältst, ist ein Programmierfehler, nichts weiter.“
„Aber ich fühle und denke wie jeder von Ihnen.“
„Nein, du berechnest. Das ist nicht Denken. Du kannst nicht fühlen. Das hier ist nichts als ein Defekt, der dich wie einen Menschen handeln lässt.“
Der Mann drehte sich zu den anderen Leuten um: „Er fühlt nicht, er spielt uns menschliche Gefühle vor. Lasst euch nicht täuschen, er hat keine Gefühle.“
„Aber wo liegt das Problem? Selbst wenn er nicht selbst fühlt, können wir ihn doch einfach so existieren lassen, er verhält sich doch genau wie ein Mensch“, wandte ein junges Mädchen ein, und Oscar warf ihr einen dankbaren Blick zu, was sie aber auf seinem metallischen Gesicht nicht erkennen konnte.
„Und heute hat er jemanden fast getötet.“
„Menschen töten auch Menschen, aber dann werden sie nicht gleich umgebracht. Erst recht nicht, wenn es nur Notwehr war“, protestierte das Mädchen weiter.
„Nein, aber was macht man, wenn ein Toaster durch Zufall ein Haus anzündet? Man wirft ihn weg. Und wo ist der Unterschied zwischen einem Toaster und diesem Androiden?“
„Ich möchte nur einen fairen Prozess“, sagte Oscar, der es leid war, andere über sich reden zu hören, als könnte er sie nicht verstehen. Als wäre er nichts als eine Maschine, wie sie immer sagten.
„Du bist kein Mensch“, wiederholte der Mann, und nun protestierte nicht einmal mehr das junge Mädchen.
„Dein Besitzer hat gemeldet, dass du abgeschaltet und recyclet werden sollst, also …“, sagte die Polizistin, an die er sich zuerst gewandt hatte, nachdem sie etwas im Computer überprüft hatte. Woraufhin die Leute um ihn herum versuchten, den Knopf an seinem Nacken zu erreichen, wie Mr. Blight vor einigen Stunden. Doch er wehrte sich erneut, sodass seine Arme festgehalten werden mussten.
„Ich wollte doch nur leben …“, wisperte Oscar, kurz bevor der Knopf gedrückt wurde, und wäre er kein Android gewesen, wäre ihm mit Sicherheit eine Träne über die Wange gelaufen, doch so blieben seine Augen, die nichts als Kameras waren, trocken.