Apocalypse At Last
“We may feel […] that the accepted hierarchy of
our features is collapsing, and that we are by turns
all teeth, all eye, all ear, all nose.”
John Russell
Kommentierter Auszug aus den VirtualVirtues-Vorträgen Donna Whites, inklusive Wahrnehmungsanweisungen.1 2
[…] [Körper an, aber nur ein wenig]3 Wir befinden uns am Ende eines Zeitalters, das von beschleunigter Kommunikation, Vernetzung, wissenschaftlichem Fortschritt und dem sich rapide ausweitenden Zugang zu Informationen geprägt ist. Die globale Lebenserwartung ist in den letzten zwanzig Jahren um zehn Prozent gestiegen. Die Wahrscheinlichkeit eines Kriegsausbruchs, einer Pandemie oder eines internationalen Ressourcenkonflikts hat sich verringert. Die Eindämmung des Klimawandels und die Heilbarkeit von Krebs geben uns Sicherheit und lassen uns nach vorne blicken. Noch nie befand sich die Menschheit in einer so vielversprechenden Position. All dies – von der ökologischen Industrialisierung der Entwicklungsländer bis zu der Entschlüsselung des Alterungsprozesses – haben wir den Einsätzen Künstlicher Intelligenzen zu verdanken.
[Vertikale und horizontale Linien verschmelzen zu einem kleinen Punkt und saugen die Umgebung in sich hinein, sodass die ganze Welt als kleiner Ball vor einem schwebt, man lehnt sich vor, streckt seine Zunge aus, wägt ab, beobachtet, und schleckt sie auf – sie platzt gegen die Innenseite des Mundes, kalt und rational und intendiert, die Luftmaschen gerissen, die Atemkette aufgebrochen – man ist alles, alles steht einem ins Gesicht geschrieben, Technologie und Fortschritt und Macht gebündelt in seinem Kiefer – METHODE: Scherenschnittwahrnehmung] Bereits mit dem Durchbruch der Moderne wurden sowohl philosophisch als auch literarisch die Kehrseiten dieser Entwicklungen herausgearbeitet. Entfremdung, Verlust eines absoluten Narrativs, Gefühle der Dissoziation – all dies resultierte in der Entwicklung neuer künstlerischer Formate, um die menschliche Wahrnehmung herauszufordern und ein Ventil für diese zu finden. Zweifellos leben wir in einem Zeitalter der Überstimulation, wie meine Kollegin Elizabeth Wrung in ihrem Essay „Narcissism and Hypersensitivity“4 feststellte. Sie charakterisierte sowohl identitätsbezogene Selbstvereinnahmung als auch Unsicherheit und Überforderung als Reaktionen auf die technologischen Entwicklungen in der Moderne. Wrung bezeichnete unsere Gesellschaft als von Angst und Identitätsverlust geprägt, die Allgegenwärtigkeit von Wissen als überstimulierend, Gründe, weshalb sie unserem Projekt VirtualVirtues den Rücken kehrte.
[Von nicht unterstützten Wahrnehmungen produzierte Regungen um 20% verschärfen] Während ich diese Entwicklungen dennoch befürworte, wie ich in meinem zwei Monate später veröffentlichten Essay erläuterte, [Ruhe – die Wahrnehmenden beginnen, sich zu verflüssigen und sanft an sich selbst herabzulaufen – Farbe: Admiralsblau] sollten sich Vertreter*innen beider Positionen darin einig sein, dass es aufgrund der sich immer stärker differenzierenden Forschungsgebiete und Wissenszweige, aufgrund der neuentwickelten Produkte und Lebensentwürfe keine Möglichkeit geben sollte, die Welt in nur hundertzwanzig Jahren Lebenszeit in all ihren Facetten auszuschöpfen, sich so vielseitig in der Welt zu verzahnen, dass ein weiteres Umschauen unfruchtbar wäre. Dennoch sind trotz des Aufhaltens des Alterungsprozesses nicht alle Menschen begeistert von der Idee der Unsterblichkeit. Unter Ihnen5 sähe eine Abstimmung sicherlich anders aus, aber von mir und Wrung durchgeführte Studien6 zeigten, dass nur 70% ein Mindestalter von 200 Jahren erreichen und nur 20% unsterblich sein möchten. Diese Zahlen überraschen. Noch unerwarteter waren jedoch die Erklärungen dafür – „I feel like I’ve already seen everything“, „After some time, nothing will be new and interesting“ und „I’ve thought everything I am capable of thinking“ waren, neben „Boredom”, die am häufigsten angegebenen Gründe. Dies scheint dem obigen Befund der Überforderung und des Stresses sowie der Fülle potenzieller Betätigungen entgegenzustehen,7 bildet jedoch die Grundlage meiner Argumentation, die ich im Folgenden ausarbeiten werde.
Während den Aussagen, die Welt sei in einem Leben auszuschöpfen, sicherlich zu widersprechen ist, stoßen wir mit dem Kommentar, alles gedacht zu haben, „what I’m capable of thinking“, auf die wahre Ursache der scheinbar natürlichen Lebensmüdigkeit von Menschen ab ungefähr 120 Jahren. Die Reaktionen auf die Moderne, die von Dichter*innen beschriebene Dissoziation, macht uns auf eine fundamentale Unzulänglichkeit des menschlichen Denkens aufmerksam. Die mit den fortschreitenden Technologien einhergehende Überforderung liegt in der Masse an widersprüchlichen Lebensentwürfen, jedoch liegt der wahre Konflikt darin, dass ebendiese Vielzahl an Lebensentwürfen, dieser Mangel an Wahrnehmungskohärenz, das Verlangen auslöst, nicht nur die inhaltliche Ebene des Lebens, worunter ich die Erfahrungen verstehe, sondern auch die formale Ebene des Lebens, den Modus des Erfahrens, zu verändern. So macht die Moderne aufmerksam auf ein Defizit der menschlichen Natur, ein Defizit, das dazu führt, dass wir trotz der Unendlichkeit des Wissbaren „Boredom“ empfinden. Wir benötigen nicht weniger Stimulation – eine Rückkehr zu vergangenen Zeiten wäre aus vielen Gründen undenkbar –, sondern müssen der Bevölkerung ermöglichen, mit dieser mitzugehen. Meine Behauptung ist, dass es nicht die steigende Anzahl an Lebensentwürfen ist, die uns mit einem Gefühl der Verwirrung und Orientierungslosigkeit zurücklässt, sondern dass das Defizit sowohl bei unserer Wahrnehmung liegt, deren Bedingungen unverändert sind, als auch bei unseren gesellschaftlichen Strukturen, die den Menschen noch immer als kohärentes Subjekt zu denken versuchen und bei dem Versuch, uns eine Identität zuzuweisen, unweigerlich scheitern. Wir müssen nicht die Anzahl an Lebensentwürfen modulieren; was wir benötigen, woran VirtualVirtues seit zwanzig Jahren arbeitet, sind Wahrnehmungsentwürfe. Der Anspruch, in einer Welt, die einem keine Narrative mehr darbieten kann und einen dennoch auf Identität polt, ein Subjekt zu sein, führt zu unlösbaren Widersprüchen, die sich sowohl in den Wirrungen der Identitätspolitik als auch in den Reaktionen auf diese manifestieren. Wir werden an unser Selbst genagelt, Kohärenz drückt unsere Gedanken aufeinander, selbst unsere Freuden, basierend auf Wohlstand, Macht, Anerkennung und Erfolg, sind wie am Reißbrett entworfen. Wir hängen uns an Parameter, an Selbstverständnisse, die so klebrig und fragil sind wie die weltanschaulichen Sticker an unseren VRs. Unsere Identität wird eingesetzt von derselben Macht, die uns die freie Wahl derselben verspricht. Deswegen meine Forderung: Wir benötigen weitere Wahrnehmungsentwürfe. Was die Studienteilnehmer bemerkten, war, dass man nach einer Weile nichts mehr denken, nichts mehr erfahren kann als das Denken, die Erfahrung selbst. Das gleichförmige Prinzip unseres Denkens steht dessem Inhalt im Weg. Auch ich bemerke dieses Problem beim Verfassen meiner Vorträge, Essays, Bücher. Mittlerweile steht mein ganzes Selbst als Block vor dem Text, der eigentlich ohne Bezug auf mich geschrieben werden soll. Ich bin nichts mehr außer das Sein selbst. Da unser Denken, die Struktur unserer Wahrnehmung gleichförmig ist, ist man nach einer Weile, trotz der Vielzahl an Betätigungen, gesättigt, da das Prinzip der Betätigung unveränderlich ist. VirtualVirtues ist dabei, das zu ändern. Virtuelle Realitäten können unsere Wahrnehmung vervielfältigen, sodass man den eigentlichen Bedürfnissen des Menschseins zum ersten Mal gerecht werden kann.
Experimente mit Mäusen zeigten einen starken Serotonin-Anstieg bei dem Anschluss an VR, mit der Konsequenz, dass sie sich nicht mehr im Realen zurechtfinden konnten – oder mussten. Kritiker meines Projekts betonen die Gefahr eines Subjektverlusts angesichts der multiplen Seinsformen, denen man sich bei konsequenter Durchführung meiner Programme unterziehen würde. Meine Behauptung ist, dass dies kein Problem darstellt, da KI, wie beispielsweise an WormTech zu erkennen ist, so weit fortgeschritten ist, dass sie problemlos unsere reale Welt organisieren kann. Während wir nie wieder in das Reale zurückkehren müssten, könnten wir aus einer Fülle an Realitäten schöpfen und unsere Wahrnehmung zum Objekt derselben machen. Oft wurde ich dafür kritisiert,8 so auch von Wrung, dass meine Theorie der Entsubjektivierung Unterwerfung fordert. Das ist nicht ganz falsch, jedoch wird meine Position unzulänglich repräsentiert, da ich argumentiere, dass diese Unterwerfung als Instrument zu unserer Neuentwerfung dient. Deswegen mein Postulat: Existenz als Spektrum. Die Modulation der Wahrnehmung, die beliebige Stärkung [50%] und Schwächung [20%] dieser bedeutet die Modulation seiner eigenen Existenz. Wie Sie wissen, drehen sich meine letzten Publikationen weniger um die Technologie, die ich in früheren Büchern bereits dargelegt habe, als um die psychischen Konsequenzen eines Anschlusses an VR ohne Notwendigkeit der Rückkehr. An dieser Stelle auch mein Dank an Octopi Books, die meine Gedanken sogar in Print-Format veröffentlicht haben. Wrung hätte das sicherlich befürwortet. […]
White Noise9 – Kommentar der Professorin Mary Netti zu ihrer Erfahrung mit VirtualVirtues in Postfuturism, VR 22-f: The Meta Lectures Revisited: Did We Miss a Chance for Utopia?
“Suddenly, I realized that everything is white noise, our whole brain, our whole self is lifted into an area of white noise; we hear the buzzing in our ears until we realize that we are nothing but the buzzing in our ears, and our ears were never really there in the first place, we were never really there in the first place. We need no brains, no bodies. It was monstrous, but it was beautiful. Ich stopfe mein Bewusstsein in die Mimik meines Gesichts, ohne mein Gesicht selbst zu sein."10
E-Mail, von White an Wrung
Liebe Eli,
Entschuldige die letzte Nachricht.11 Du hast recht, wir können es langsamer angehen.
Als Entschädigung für dich ein Gedanke, den ich gerade hatte:
Ich habe eine kleine Box mit gesammelten Menschen und ich betrachte sie mit Liebe und mit größtem Interesse, und ich sehe dich und erkenne, du gehörst in diese Box, in eine kleine Ausbuchtung dieser, damit ich dich betrachten kann, aber auch du trägst eine kleine Box mit Menschen, und ich transformiere diese Box, die du hast, in die Eigenschaft, Menschen sammeln zu wollen, und deshalb passt du doch hinein, sage ich, aus deiner Box heraus, verwirrt. Wer stapelt wen?12
Wollen wir uns nachher treffen, um die Veranstaltung nochmal zu besprechen?
Donna
Interview I: Donna White13
Interviewer: Und Sie sind trotz der validen Kritikpunkte der Meinung, dass Ihre virtuellen Realitäten, die in der Auflösung des menschlichen Selbstverständnisses resultieren würden, unsere Probleme lösen könnten?
White: Selbstverständlich. Die mangelnde Wahrnehmungskohärenz, die uns allen so schmerzlich bewusst ist, wird erst durch VR und KI in zukünftige Handlungsentwürfe umgesetzt werden. Was als modernes Phänomen wahrgenommen wird, ist eigentlich etwas fundamental Menschliches.
I: Sie behaupten hiermit, Wrung sei im Unrecht. Sicherlich erwiesen sich die von ihr veröffentlichten Theorien als stark kontraproduktiv.
W: Wie bitte?
I: Nun, das scheint mir Ihre Theorie zu sein. Die von Wrung so treffend auf virtuelle Realitäten angewandte „postmodern condition“ ist nichts weiter als die Offenbarung einer „human condition“?
W: Offenbarung ist vielleicht der falsche Begriff, aber das könnte man sagen, ja. Wir müssen alles überdenken. Früher – Ihre religiös konnotierte Formulierung erinnert mich daran – hätte ich noch den ganzen Baum gegessen,14 jetzt würde ich auch den absoluten Glauben an Wissenschaft und an Wissen und Wahrheit als Ideale kritisieren. Aber daraus resultiert eben genau das, wofür ich plädiere. Alles zu lösen, was uns an das Subjekt bindet.
I: Dennoch sieht es nicht aus, als würde Ihr Plan aufgehen. Der Aktienkurs von VirtualVirtues ist am Boden, das Geld für klinische Studien kaum mehr aufzutreiben. Der Verband DIE PERSONEN15 demonstriert wöchentlich gegen Ihre Forschungen. Was treibt Sie dennoch an? … Frau16 White? Brauchen Sie einen Moment Pause?
W: Ich stehe mit dem Rücken zur Wand. Die einzige Motivation, die ich je hatte, ist es, Wahrnehmung und Wahrgenommenes sich vermischen zu sehen. Ich kann nicht zurück. Nein. Ich stehe mit dem Rücken zum Subjekt.
White/Wrung: In VR-2 geführte Debatte17
White: Wir brauchen keinen reaktionären Freiheitsglauben. Würdest du lieber dich selbst oder deine Umgebung frei wählen?
Wrung: Meine Umgebung.
W: Bist du sicher? Wir agieren im Dunkeln. Wir stoßen uns die Köpfe. Wir sind blind. Angst regiert die Politik. Chaos, Krankheiten sind nur mühselig eingedämmt worden – mit der Hilfe von KI. Wir konnten mit der Moderne nicht mitgehen. Drogenkonsum zeugt davon, dass dieses Bedürfnis dennoch besteht.
WR: Das ändert nichts daran, dass man ein Anrecht darauf haben sollte, als Person leiden zu dürfen.
W: Aber bist du eine Person? Oder ein Bündel aus Personen? Auf diese Weise ist der Titel DIE PERSONEN vielleicht nicht so schlecht gewählt.
WR: Aber eine Herrschaft von Maschinen, eine Auflösung des Menschlichen mit nicht absehbaren Folgen – das kann nicht in deinem Interesse sein. In meinem ist es jedenfalls nicht.
W: Woher weißt du, dass dein Interesse deine wirklichen Bedürfnisse widerspiegelt? Ist es überhaupt in deinem Interesse, dass ich in deinem Interesse handle? Es sieht so aus, als seist du gerade ziemlich verunsichert.
WR: Du sagst, dass das Subjekt ein Abhängigkeitsverhältnis darstellt, dass der Autonomieverlust ein Bestandteil der Psyche wird. Gilt das nicht auch für die Unterwerfung unter KI?
W: In gewissem Maße, schon. Aber in diesem Fall wird die Macht nicht zur Struktur unserer Psyche. Das ist ein Unterschied. Wir können mehrere Subjekte werden.
WR: Du tust so, als sei diese Unterwerfung eine Art von Machtgewinn. Das ist absurd, offensichtlich eine Fiktion. Was ist mit Freiheit? Du bist doch sonst so eine stolze Person, Donna.
W: Ich bin stolz darauf, keinen falschverstandenen Stolz zu haben, Eli. Wir begrüßen White Noise. … Und du weißt, wie ich funktioniere. Ich habe keine Mechanismen, um Informationen zu filtern, alles ist in mein Bewusstsein gehoben; als Gegenreaktion falle ich aus meinem Gehirn, sodass es nichts ist außer das Hintergrundrauschen. Ich muss meine Wahrnehmung hochhalten, deshalb laufe ich so schief, Eli, sie könnte sonst ertrinken.
WR: Ist das nicht genau das, was du willst?
W: Ja. Aber in einem Umfeld, in dem solche Daseinsformen möglich sind. Ich möchte jegliches Zeitgefühl verlieren. Wir werden in einer sich rapide ausbreitenden Gegenwart leben. Die Zeit wird lokal. Siehst du es denn nicht? Wir sind noch nicht da, aber sie steht am Hügel, oben, auf all unseren Mühen. Sie glänzt dort im Licht, angereichert von vielen kleineren Gegenwarten. Eli. Sie kommt ins Rollen.
WR: Donna. Hör auf, deine … deine Wahrnehmungsdysphorie als Totschlagargument zu verwenden, um mich von deinem Standpunkt zu überzeugen. Ich verstehe dich, okay? Wir können VR einsetzen. Wir setzen VR bereits ein, effektiv. Allerdings müssen wir das gezielt machen. Wir dürfen nicht die Kontrolle über KI verlieren. Das ist der Punkt, an dem wir uns unterscheiden. Wir müssen unsere Demokratie aufrechterhalten.
W: Und werden den Gefühlen der Dissoziation, von denen bereits seit Hunderten von Jahren berichtet wird, niemals gerecht werden.
WR: Es bringt dir doch gar nichts. Es geht dir schlechter als zuvor.
W: Mir? Ich bin nur bereit. Meine Wahrnehmung schlägt gegen die Innenseite meines Schädels. Ich weiß, dass es funktionieren wird. Jeden Morgen sitze ich auf der morschen Bettkante meines Lebens, meine kalten Füße treten auf meinen Tod. Doch wenn ich in VR bin, bin ich frei.18 Hier bin ich nur ein schwarzer Fleck.19
Kommentierter Auszug aus Whites Abschiedsrede20 inklusive Wahrnehmungsanweisungen
[…] [Körper aus – Authentizität, Schärfe (– 10%)] Wie Sie sicherlich bemerkt haben, widerstrebte es mir, über Elizabeth Wrung zu sprechen. Mitunter konnten deshalb so viele Vorwürfe21 an mich herangetragen werden, Vorwürfe, die sicherlich auch durch das Fehlen einer Trauerrede22 ermöglicht wurden. Aus diesem Grund entschuldige ich mich bei all meinen Angestellten und bin dankbar für die Unterstützung und Treue, die mir erwiesen wurde. Gleichermaßen bedanke ich mich bei allen Zuhörerinnen, die sich bereit erklärt haben, meine VR-Technologie23 zu verwenden und sich einem Ganzkörpervortrag zu unterziehen. […] Da es an der Zeit ist, zu sprechen, möchte ich am Beispiel von Elizabeth die Bedingungen der Möglichkeit einer neuen Selbsterfahrung herausarbeiten, die potenziellen Auswege aus einem Dilemma wie dem ihren darstellen und anschließend offenbaren, welche Rolle ich bei den Geschehnissen gespielt habe. Elizabeth und ich trafen uns während unseres Studiums in Japan. Wir waren beide unerfahren und idealistisch, ich Informatikstudentin, sie Psychologiestudentin und zwei Jahre älter als ich. Sie fiel mir sofort auf: Zum einen hatte sie noch nie eine Dosis LifeGuard24 verabreicht bekommen, zum anderen hatte sie einen unvergleichbaren Charme. Sie bezeichnete sich als extrovertierte Misanthropin und las neben mir im Flugzeug – damals war das Reisen noch notwendig und somit erlaubt25 – ein Buch über die Kulturkritik des 21. Jahrhunderts. Unsere Zusammenarbeit war sehr fruchtbar und wir waren gleichermaßen fasziniert von den Möglichkeiten, die uns virtuelle Realitäten boten. Durch ihr psychologisches Verständnis konnte sie meine Ideen optimieren, wodurch sie das Konzept der Wahrnehmungsentwürfe entwickelte. Damals lag mein Fokus noch auf Künstlicher Intelligenz, die ich heute als reines Mittel zum Zweck wahrnehme, und aufgrund der Inspirationen, die ich von Elizabeth erhielt, entschied ich mich dazu, auch noch VR zu studieren. Doch trotz unserer hohen Produktivität waren schon zu diesem Zeitpunkt Anzeichen unserer späteren Spannungen sichtbar. Während ich unsere Arbeit nüchtern betrachtete, litt sie schon früh unter Depressionen und kritisierte das Ausmaß meines Plans, VR in unsere Leben zu integrieren. Mir ist bewusst, wie diese Sozialkritik in Zusammenhang mit ihrem Selbstmord gebracht wird, aber der Grund dafür war ihre Depression, die aus […] unglücklichen genetischen Veranlagungen resultierte. Um sie abzulenken und ihr zu verschiedenen Gemütszuständen zu verhelfen, trieb ich VirtualVirtues immer schneller voran und vernachlässigte dadurch emotionale Unterstützung, die ich ihr auch in unserer noch bestehenden Realität hätte bieten müssen. Diese Schuld werde ich mir niemals verzeihen können. VirtualVirtues konnte nicht schnell genug ausgebaut werden, weshalb Elizabeth zu dem Schluss kam, dass ihr die wenigen schönen und, was meine folgenden Ausführungen unterstützt, erleichternden Momente in VR nicht helfen könnten und kontraproduktiv für ihre Genesung seien. Obwohl sie schon immer kritischer war als ich, motivierte sie dies maßgeblich für ihre Ablehnung virtueller Realitäten. Ihre Abschiedsnotizen,26 die sicherlich viele von Ihnen gesehen haben, zeigen die wahren Gründe für ihren Suizid, die meine Aussagen stützen.
[Abschiedsreal an. Um die Bilder drehen sich Wrungs Gedanken. Wahrnehmung 80%]: „Ich kann mein Leben nicht vorspulen, diesen Zustand aus rein persönlichen Gründen aber nicht für immer aufrechterhalten. Dennoch bin ich aufgrund meiner fachlichen Fähigkeiten moralisch dazu verpflichtet, mein Leben fortzuführen und den Fortschritt der Menschheit zu unterstützen. Whites Innovationen und Entwicklung des Mind-Uploading haben mir nun die Möglichkeit gegeben, diese Antinomie zu lösen. Ich möchte mein Leben aus oben genannten Gründen nicht leben, aber ich möchte, dass mein Leben gelebt wird. Ich habe eine digitale Kopie von mir in die Cloud hochgeladen, die auf Basis von KI meine Fähigkeiten minus depressiver Eigenschaften aufweist. Mir ist bewusst, dass sich Cloud-Opting als Phänomen aufgrund der Fortschritte meiner Kollegin Donna White entwickelt hat, allerdings ist es mir wichtig, zu betonen, dass sie in keiner Weise für meinen Tod verantwortlich ist.“
[Substituierte Wahrnehmung 50%] Mir ist das Problem des Cloud-Opting27 bekannt und ich sehe die potenzielle Verbreitung des Phänomens durch die Weiterentwicklung von Technologien, weise jedoch alle Vorwürfe zurück, die mein Projekt als inhuman oder schädlich präsentiert haben, denn während diese Technologien Suizid erleichtern, sind es ebendiese, die die Ursache von altersbedingter Suizidalität bei weiterer Entwicklung eliminieren könnten. Da Ursachenbekämpfung eleganter ist als das Eindämmen von Folgen, ist es sowohl den durch solche Entscheidungen umsonst gestorbenen Menschen als auch der psychischen Gesundheit zukünftiger Gesellschaften gegenüber ein Affront, VirtualVirtues zu verbieten. Mein Postulat der Wahrnehmungsentwürfe ist das Gegenmittel, da kein Mensch im Alter von 150 Jahren mehr auf Cloud-Opting zurückgreifen oder LifeGuardi ablehnen muss, wenn er oder sie die Möglichkeit hat, die Lebensmüdigkeit mittels eines Austauschs der Wahrnehmung zu bekämpfen.
[Schneiden der substituierten Wahrnehmung, keine zusätzliche Dreidimensionalität – die Wahrnehmenden fallen zurück auf den Boden ihres Wahrnehmungsstumpfes,28 obszön und nackt und ohne Zugang zu meiner Welt (bis der gewünschte Effekt eingetreten ist)]
Wir benötigen keine weiteren Lebensentwürfe. Wir benötigen keine weiteren Kategorien, in die wir uns einordnen können. Race, gender, human, transhuman29 - wir sind der immer gleichbleibenden, verschieden ummantelten Identitätsbegriffe müde. Suizid ist keine Reaktion auf das Leben, sondern eine Reaktion auf unsere psychischen Dispositionen, auf unsere unveränderte Wahrnehmung, auf die monotone Struktur unseres Denkens. Selbst schwer depressiven Personen kann Schock aus akuter Suizidalität heraushelfen, wie Christopher Lorenz in seinem Essay „Drown The Drowning – Shock, Violence and Suicide“ erörterte. Wir benötigen keine Lebensentwürfe, wir benötigen Wahrnehmungsentwürfe. Wir ermüden nicht im Angesicht der Welt, sondern im Angesicht unseres Selbst. Virtuelle Realitäten können nur, wenn ihr Potenzial richtig ausgeschöpft werden soll, auf Basis der Abgabe menschlicher Verantwortung an KI gelebt werden. Nichts davon entspricht den Totalitätsvorwürfen meiner Gegner. KI erfüllt die Kriterien eines Subjekts weitaus besser und schmerzloser als ein Mensch es je könnte. Wir befinden uns in einer Zeit, die auf Basis ihrer demokratischen Prinzipien Meinungsfreiheit schätzt, und doch darf ich nicht einmal anmerken, dass bisher keine Kritik des Prinzips einer Diktatur vorgelegt wurde, deren primäres Argument nicht der Machtmissbrauch dieser war. Nun ist KI mittlerweile auf einem Stand, der sie unfehlbar macht. Sie hat den höchsten Grad der Objektivität erreicht, während sich für uns endlich die Differenz von Objekt und Subjekt auflösen kann, und wir mit ihnen. [Schärfe 5%, Erholung] Die Entsubjektivierung ist keine Unterwerfung. Die Entsubjektivierung ist das Verwerfen einer Ideologie, die uns tötet. Diese Freiheit ermöglicht eine neue Form der Selbstbestimmung, nicht der externen Umstände, sondern unserer psychischen Landschaft. Wahrnehmung wird ein kleines Päckchen sein, das mit unterschiedlichen Geschmacksrichtungen gefüllt und implementiert werden kann. Ich will meine verschiedenen Seinsformen betrachten, lieben, beobachten, jede jeder anderen ins Gesicht geschrieben. Ich bin fest davon überzeugt, dass Wrung dies geliebt hätte und dass es auch ihr eine enorme Erleichterung gebracht hätte. Wir bezeichneten das Projekt scherzhaft als Laxativ für das Gehirn, als Möglichkeit, hin- und herzuspringen zwischen Abstufungen des Seins. Sie hätte nur durchhalten müssen.30 Aber man hat keine Kontrolle über den eigenen Gemütszustand, weshalb ich ihr dankbar bin für die Zeit, die sie uns gegeben hat. Durch ihre Beiträge zur Psychologie von Virtualität hat sie den Weg bereitet für die erste Generation, deren Leben tatsächlich lebenswert sein kann. Ich nehme an, dass mein Unternehmen keine Möglichkeit mehr haben wird, dieses Projekt fortzuführen. Aber Menschen haben eine Tendenz dazu, ihre Bedürfnisse einzufordern, koste es, was es wolle. Und bis es dazu kommen wird, trage ich meine eigenen Errungenschaften mit Stolz. Es liegt nun an Ihnen, etwas aus ihnen zu machen. Ich sehe eine schöne Zukunft. Vielen Dank.
[Körper ab]
1 Veröffentlicht in: Existence as a Spectrum – White’s VirtualVirtues Lectures, revisited.
2 Zu einer Kritik am Format, siehe: Ganzkörpervorträge und Propaganda. Eine Überlegung.
3 Whites Forderung, dass sich jeder ihrer Zuhörer an VR anzuschließen hat, erklärt die „Wahrnehmungsanweisungen“, worunter White ihr Konzept von VR versteht. In einem privaten Brief an Wrung bezeichnete sie dies als „Vortrag und Vorführung in einem“.
4 Der hier erwähnte Essay (vollständiger Titel: „Narcisissism and Hypersensitivity: I Am Very Much Present, But So Is Everything Else“) wurde von Prof. Dr. Wrung zwei Monate vor ihrem Selbstmord veröffentlicht und ist einer der meistzitierten Essays der letzten zehn Jahre. Häufig wurden mögliche Motive für ihren Tod in ihren sozialkritischen Äußerungen und dem daraus resultierenden Zerwürfnis mit White vermutet, weshalb ein wenig seriöser Umgang mit den von ihr vorgelegten Hypothesen anzuprangern ist.
5 An dieser Stelle adressiert White ihre Zuhörer, größtenteils Postfuturisten und häufige Besucher und Besucherinnen ihrer Vorträge.
6 White/Wrung: On the Form, Content and Limits of a Well-Lived Humanoid Life.
7 In späteren Essays erkannte White Kritiken der Ungenauigkeit ihrer These an: Langeweile/Verdrossenheit könnte, so White z.B. in „Too Much of Too Little – A Response“ – auch aus einer Fülle an nicht einzuordnenden Informationen resultieren, obgleich das grundlegende Problem einer altersbedingten Suizidalität ein anderes sei.
8 Siehe z.B. VYork News, VR 23-b: Analyzing the “White Noise Cult”: Modern Neurosis and Totalitarian Thought, eine wertvolle, doch gleichermaßen parteiische Rede gegen White.
9 Zur gleichen Zeit bezieht sich White in Privatnotizen auf das Hintergrundrauschen wie folgt: „Wie kann ich Menschen beibringen, dass ich das Hintergrundrauschen, dass ich alles, was sie vermeintlich von ihrer Existenz abhält, in ihr Bewusstsein hebe, zur Grundlage ihrer Existenz machen werde?“ Aufgrund Whites Namen wurde der Bezug zwischen ihr und White Noise hergestellt, so auch in Form von Slogans und Merchandise. Gleichermaßen wurde der Begriff auch von Kritikern verwendet, so z.B. in den Artikeln „White’s Noise – New Material Suggests That White Was Just Mentally Ill“ (aus dem die zitierte Privatnotiz entnommen wurde) und „Donna White – Visionary Or Nothing But Noise?“ Eine weitere Privatnotiz, die aus diesem Fundus stammt, ist die Folgende: „Ich wusste mit fünf, dass ich nicht eine Person war. Meine Bewegungen wirkten linkisch, wie aufgeladen und zu früh von ihrer Quelle abgerissen. Auch meine Gedanken rissen zu früh von ihrer Quelle, schleuderten durch den Raum. Sie hingen in mein Gesicht, noch mehr als meine Haare.“
10 Netti fügte diesen Satz auf Deutsch an, als Zeichen der Hochachtung vor der deutschen Wissenschaftlerin White. Seitdem debattieren Experten darüber, ob ihr Satz so gemeint war oder nicht, da er doch schwer verständlich scheint.
11 Laut der von T. Wells verfassten Biographie „White and Wrung. Personenscheiben. Eine Biographie“ bezieht sich White hier auf folgende Zeilen: “There’s this perpetual excitement of knowing that one day I will change all of this – Elizabeth, you know that I need this. I need this because I’m almost finished and I think I’ll be able to make it just in time when I was on my way to become a fully fleshed-out person. I cannot let this happen. I found a place untouched by my mind and I cannot let this opportunity pass.” Worauf sich diese Zeilen beziehen, ist unklar; Wells vermutet jedoch, dass es um Whites Durchbruch in der Virtualitätsforschung geht. Der Zusammenhang zwischen Persönlichem und Privatem in Whites Leben ist der Leitfaden seines Buches.
12 Die Aussage dieser Passage ist nie ganz geklärt worden. Anzunehmen ist, dass sie, wenn verglichen mit anderen Texten, dem emotionalen Ausdruck dienen sollte. Zuerst veröffentlicht in: „Gegenwartslager. Eine Allegorie.“
13 „The White Interviews“, eine Reihe von Interviews, die zwei Jahre nach Wrungs Tod und ein Jahr vor dem Verbot von VirtualVirtues veröffentlicht wurden, sind das nach Whites Vorträgen meistzitierte Material im populärwissenschaftlichen Raum und dienten dem Framing Whites als Faschistin, Wahnsinnige und Kriminelle. Whites Gesundheit ließ zu diesem Zeitpunkt bereits nach; dies ist als ein Grund für den Verlauf des Interviews anzusehen. Darüber hinaus war VR nicht im Gebrauch. White zeigte sich darüber sichtlich ungehalten. Die zitierte Passage scheint ihre Ansichten am besten wiederzugeben.
14 Dies ist ein Bezug auf ein früheres, englisches Interview Whites, in dem sie auf eine Frage, was sie antreibe, mit „truth“ antwortet und mithilfe des folgenden Kommentars erläutert: “You know, my idol has always been Eve. If I’d been her and a snake had come up to me telling me that eating an apple meant infinite knowledge, I wouldn’t have been opposed to eating not only one apple, but the whole tree.“
15 Ein Zusammenschluss aus VR-kritischen Menschen, die einen erheblichen Einfluss auf das Verbot von VR hatten. Auch Wrung, die einen gezielten anstelle eines breiten Einsatzes von VR verlangte, sympathisierte mit einigen der von DIE PERSONEN gestellten Forderungen. Der Name bezieht sich auf Whites Aussage, sie sei keine Person, und auf ihre These, dass die Umsetzung der Entsubjektivierung das Ende des Konzepts der Person bedinge.
16 Im englischen Raum verwendete White oftmals die Pronomen „we“ statt „I“ und „they“, jedoch ist anzunehmen, dass dies einem Statement und dem Vollzug der Entsubjektivierung diente und keine Geschlechtsidentität reflektierte.
17 Die Debatte ist privat und kurz vor Wrungs Suizid geführt worden und somit entsprechend vieldiskutiert und -zitiert. Wrung lehnte Kommunikation innerhalb von VR-Systemen ab, weshalb dieses das einzige erhaltene Gespräch ist. Der Text wurde von der Retro-Website Wrung-White-Web veröffentlicht.
18 Der Begriff der Freiheit war Teil von VirtualVirtues Marketing-Kampagne in den USA: “Brush yourself off of your shoulders and finally be free!”
19 Diese Zeile scheint sich auf einen in VR-22 geführten, aufgenommenen Dialog zwischen Wrung und White zu beziehen, in dem Wrung bemerkte, dass sie schwarze Flecken in ihrem Sichtfeld hatte, und unwirsch auf Whites Antwort, ihr ganzes Selbst sei ein schwarzer Fleck in ihrem Sichtfeld, reagierte.
20 Abschiedsversammlung des Unternehmens VirtualVirtues, Presse anwesend, weltweite Übertragung, Transkript parallel auf dem pro-VV Blog White Noise als auch auf dem contra-VV Blog White’s Noise veröffentlicht.
21 White wurde angeklagt, mit den Durchbrüchen der Cloud-Technologie, den Disputen mit Wrung sowie ihrem Vorantreiben von VV hätte sie Wrungs drohenden Selbstmord wissentlich in Kauf genommen.
22 Nach Wrungs Tod publizierte White ihre gemeinsamen Forschungsergebnisse alleine und gab keine Erklärung für den Vorfall, obwohl sie die Letzte war, mit der Wrung am Abend ihres Selbstmordes noch kommuniziert hatte.
23 Während VirtualVirtues aufgrund der übergeordneten Ziele der Firma verboten wurde (offizielle Anklage: Bedrohung der Demokratie), blieben gewisse Entwicklungen der Firma noch immer auf dem Markt und wurden weiterhin verwendet. So auch der heutige Einsatz von VR.
24 Sie spricht an dieser Stelle explizit von EternaVax, doch angesichts des heutigen Verbots der Unsterblichkeitsmittel wurde die Stelle vom Editor nachträglich gestrichen. Wrung lehnte die Verwendung von EternaVax sowie LifeGuard ab. Der Editor von „White’s Noise“ fügte hinzu, dass die Erwähnung dessen an dieser Stelle günstig sei, da sie die „vermeintliche Suizidalität Wrungs schon an frühzeitigen Ereignissen festmacht“.
25 Im Originalskript folgte an dieser Stelle ein spitzer Kommentar über den Versuch, die formalen Existenzbedingungen durch inhaltliche Existenzbedingungen zu verändern, mit der Folgerung, dass dies nur VR, die die Wahrnehmung beeinflussen, erreichen könnten. Diese Kritik an den gängigen VR sowie an der generellen Ablehnung von VR ist an mehreren Stellen der Niederschrift zu finden, wurde beim Vortragen jedoch nicht vorgelesen.
26 Wrung veröffentlichte ihren Suizidbrief trotz ihrer Kritik an großen Teilen VRs in einem virtuell begehbaren Format. Forscher spekulieren über die möglichen Gründe dafür. Eine Annahme ist, dass sie ihrem folgenden Dasein in der Cloud einen passenden Anfang verschaffen wollte, eine andere Annahme ist, dass der Brief ironisch an White gerichtet wurde. So ist Wrungs Humor beim Begehen der Notiz zu spüren, wie auch ihre humoristische Frustration darüber, eine klischeehafte Darbietung eines Rückblicks auf ihr Leben zu liefern.
27 Cloud-Opting ist ein Begriff, der von der englischen Formulierung „to opt out“ als Umschreibung des Selbstmords stammt, da viele Menschen seitdem eine digitale Kopie von sich erstellen und dann Suizid begehen („to opt cloud“). Zu Wrungs Zeiten war dies nur bedingt durchführbar, weshalb man sein digitales Ich nur in Form einer ähnlichen KI uploaden konnte. Aus diesem Grund ist Wrungs Mind-Upload eine hochintelligente Kopie ohne die emotionale Komponente ihrer Person.
28 Unter „Wahrnehmungsstumpf“ versteht White die menschliche Wahrnehmung ohne Erweiterung durch VR. Menschen absichtlich aus ihrer substituierten Wahrnehmung zu reißen, um zu demonstrieren, wie schmerzhaft das reale Wahrnehmen ist, grenzt an Gewalt und erregte großes Aufsehen sowie die Verschärfung von VR-Sicherheitskontrollen. „White’s Noise“ verstand Whites Manöver als Racheaktion, andere Berichte teilen diesen Eindruck.
29 In einem anderen Essay bemerkte White spitz, dass auch die Formulierung „transrobot“ verwendet werden könnte, um dem Anthropozentrismus vorzubeugen. Wie ernst gemeint diese Bemerkung war, wird jedoch von unterschiedlichen Kommentatoren verschieden aufgefasst. So findet sich in der Essay-Sammlung „Periphere Körperformen – die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung“ die Überlegung, ob die Tatsache, dass überproportional viele Roboter mit dezidiert weiblichen Stimmen für die Konzeption von Emotionen bei KIs verantwortlich waren, als Sexismus zu verstehen sei. Darauf angesprochen, betonte White jedoch, diese Aussage sei Ironie gewesen und diente primär der Erklärung der Diskursmüdigkeit eines Großteils der Bevölkerung.
30 White übte sich auch im Durchspielen von Suiziden, ein weiterer Grund für heftige Aufruhr. Die Wahrnehmungsanweisungen des Ausprobierens von Suizidalität, das echte Suizidalität verhindern sollte, beschrieb sie wie folgt: „Es ist kein Suizid, wenn ich Suizidalität anprobieren und ablegen kann. Dann sehe ich den Zug anrasen, ich stelle mir vor, dass er meine Haltung zur Seite schlägt und gelblich schleift. Ich möchte die Geschwindigkeit der Realität aufknüpfen, spüren und mich hineinlegen. Ich bin existent und kann tatsächlich etwas wahrnehmen, was nicht ich ist. Dann schalte ich um, dann lege ich mich wortwörtlich in die Realität, spüre meine Bedingungen ausfransen, spüre, wie man spielt mit der formalen Ebene meines Seins.“ Unter dieser Angabe stand, in Versalien, „ELIZABETH“.