Major Defect
„Sind Sie bereit?“
Die Astronautin lächelte, obwohl die Nervosität ihren Magen in ein Kaleidoskop zu verwandeln schien, das jemand so oft geschüttelt hatte, dass es nur noch ein vielfarbiges Chaos war.
„Natürlich.“
„Dann schalten wir jetzt auf Autopilot. Achtung…“
Es war eine einzigartige Mission. Sie würde als erster Mensch ein Wurmloch durchqueren.
Frühere Tests mit Kameras und lebenden Tieren waren erfolgreich gewesen, doch noch wusste niemand so richtig, wie es wirklich auf der anderen Seite war. Und da kam sie ins Spiel: Ana Pinheiro, 34 Jahre alt, promovierte Ingenieurin, und bald der erste Mensch auf der anderen Seite eines Wurmlochs. Drei Jahre lang hatte sie sich auf diese Mission vorbereitet, und nun war es soweit.
Die Kapsel, in der sie saß, löste sich vom Schiff und zischte auf das schwarze Loch zu. Fast sofort geriet sie in seinen Sog und wurde schneller, immer schneller, bis das kleine Fenster vollständig vom Loch ausgefüllt wurde.
Und dann fiel sie.
Nein, dachte sie, fallen war nicht das richtige Wort. Es war eher wie der Moment, in dem die Achterbahn auf der höchsten Stelle der Strecke langsamer wurde, bevor sie sich nach unten stürzte. Der kurze Augenblick, in dem man sich sicher war, dass die Schwerkraft irgendwelche wichtigen Körperteile in der Luft vergessen hatte, bevor man sich schlussendlich an den rasanten Abstieg gewöhnt hatte. Nur sehr viel länger. Und unangenehmer. Sie klammerte sich an ihrem Sitz fest, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, und versuchte vergeblich, sich selbst mit dem Gedanken aufzumuntern, dass es bis hier ganz gut gelaufen war. Die Kapsel war speziell dafür gebaut worden, die enorme Belastung auszuhalten, die im Wurmloch herrschte. Der Fakt, dass sie noch lebte, bedeutete, dass es funktionierte.
Und dann, so plötzlich, wie es begonnen hatte, war es wieder vorbei, und die Kapsel taumelte durch den leeren Raum.
Das erste, was sie sah, waren die fremden Sterne. Das zweite war das Schiff.
Nicht ihres, wie sie im nächsten Augenblick realisierte. Genauso wenig irgendein anderes Schiff, das sie im Lauf ihrer Ausbildung kennengelernt hatte.
Es war schlank und langgezogen wie ein Federkiel, in einem dunklen Braunton, der sich kaum vom Schwarz der Leere abhob und es schwer machte, seine Größe zu erkennen. Auch die Triebwerke, von denen vier Stück rings um das Schiff angebracht waren, kamen ihr gänzlich unbekannt vor, und der Ingenieurin in ihr juckte es in den Fingern, sich in ihre Baupläne zu vertiefen und herauszufinden, wie sie funktionierten, welchen Treibstoff sie benutzten, wie…
Zu ihrem Schrecken bemerkte sie, dass das Schiff sich geradewegs auf sie zu bewegte.
Noch bevor sie umdrehen und die Kapsel zurück in Richtung des Wurmlochs steuern konnte, lag es schon neben ihr. In seiner Seite öffnete sich ein rundes Tor und Ana sah, wie die Kapsel von einer unbekannten Kraft – vielleicht einem Elektromagneten? – hineingezogen wurde.
Hinter ihr schloss sich das Tor wieder.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr die Luft zum Atmen ausgehen. Sie wollte nichts mehr, als den Helm abzunehmen, der ihr plötzlich viel zu klein erschien – und überhaupt, war es in der Kapsel schon immer so eng gewesen? Doch sie musste sich zusammenreißen. Die zusätzlichen Sauerstofftanks, die in der Kapsel verstaut waren, bedeuteten, dass sie für fast zwölf Stunden Luft hatte, aber wenn sie in Panik geriet, würde es deutlich weniger sein.
Ana löste den Gurt des Sitzes und öffnete die Luke der Kapsel. Mit einem leisen Zischen gab sie den Blick auf den Raum frei, in dem sie sich befand: Kuppelförmig, aus demselben Material wie der Rest des Schiffes. An der Wand hing etwas, das wie ein Kontrollpanel aussah. Konnte man damit das Tor öffnen? Aber wie würde sie es rechtzeitig zurück zur Kapsel schaffen, bevor sie in den luftleeren Raum gesogen wurde?
Plötzlich öffnete sich eine neue Tür und Ana zuckte zusammen.
In der Öffnung stand jemand.
Natürlich war es keine Neuigkeit, dass außerirdisches Leben existierte. Schon vor einigen Jahren hatten Wissenschaftler einen Planeten entdeckt, auf dem es von Pflanzen und Tieren nur so wimmelte, doch Versuche, außerirdische Zivilisationen zu kontaktieren, waren noch immer erfolglos geblieben.
Und jetzt das.
Die Person, die auf der anderen Seite der Tür stand, war ein gutes Stück kleiner als sie. Ihre Haut war blau und wirkte dünn, wie die eines Frosches, und Ana konnte zwischen ihren – oder seinen? – langen Fingern und Zehen Schwimmhäute erkennen. Der Kopf ging fast nahtlos in den Hals über und auch wenn sie gerade nicht benutzt wurden, zeichneten sich mit feinen Linien Kiemen am Hals des Außerirdischen ab.
„Ana Pinheiro?“, fragte er.
Ana starrte ihn an. Sie nickte vorsichtig. Der breite Mund des Außerirdischen zog sich noch etwas weiter auseinander.
„Schön, dass du da bist“, sagte er in perfektem Portugiesisch.
Ruhig bleiben. Sie musste ruhig bleiben. Aber wie, wenn sie auf der anderen Seite eines Wurmlochs einem außerirdischen Wesen gegenüberstand, das ihren Namen kannte und ganz offensichtlich wusste, wer sie war?
Sie zog sich aus der Kapsel. Falls sie gleich angegriffen wurde, wollte sie nicht in einem kaum zwei Kubikmeter großen Raum mit nur einem Ausgang stecken.
„Wer sind Sie?“, fragte sie.
„Nenn mich Deirdre“, sagte das Wesen. „Und folge mir. Wir haben nicht viel Zeit.“
Deirdre drehte sich um, verließ den Raum durch dieselbe Tür, durch die sie gekommen war und winkte Ana, ihr zu folgen.
Ana zögerte. Doch welche Wahl blieb ihr? Bei der Kapsel zu bleiben und zu warten, bis ihr die Luft ausging, oder wer auch immer das Schiff steuerte, die Kapsel wieder freigab? Wenn sie ihr folgte, konnte sie wenigstens herausfinden, was hier los war. Und vielleicht konnte sie sich diese Triebwerke noch etwas genauer ansehen. Offen gestanden faszinierte das Schiff sie. Auch jetzt, bei näherer Betrachtung, kam sie einfach nicht dahinter, aus welchem Material das Schiff bestand. Es wirkte nicht wie irgendein Metall, das sie von der Erde kannte. Ein Kunststoff also? Aber wenn ja, wie wurde er hergestellt? Aus was? War es vielleicht auch für Menschen möglich, etwas Ähnliches herzustellen?
Welche Eigenschaften hatte er?
Sie war schon immer neugieriger gewesen, als gut für sie war. Sie atmete noch einmal tief ein und folgte Deirdre in das Innere des Schiffs.
Sie betrat einen langen, runden Gang, der sich durch das ganze Schiff zu erstrecken schien und von dem in unregelmäßigen Abständen Türen abgingen. Sofort bemerkte sie, dass Deirdre deutlich schneller ging als sie. Sie musste beinahe rennen, um Schritt zu halten, was es schwierig machte, Fragen zu stellen.
„Warum soll ich Ihnen folgen?“, rief sie ihr hinterher. „Was meinen Sie damit, wir hätten nicht viel Zeit?“
Deirdre lief unbeirrt weiter. „Ich brauche deine Hilfe mit den Triebwerken“, sagte sie. „Als du durch das Wurmloch gekommen bist, hat es bisher unbekannte Strahlungsmuster erzeugt. Der Bordcomputer konnte nicht darauf reagieren, überhitzt gerade, und gleich wird es einen Kurzschluss geben, was zum Ausfall wichtiger Technik führen wird. Das Schiff wird explodieren und wir werden sterben. Du kennst dich mit Technik aus, also wirst du den Kurzschluss beheben, sobald er auftritt, damit es keine weiteren Schäden am Schiff gibt. Noch Fragen?“
Ana blieb stehen. „Ja! Wie kann es sein, dass Sie mich kennen, aber ich nicht Sie?“ Deirdre entfernte sich immer weiter und sie legte einen kurzen Sprint ein. „Warum wissen Sie jetzt schon, dass es einen Kurzschlussgeben wird? Und was ...“, sie schnappte nach Luft, als sie sie einholte. „Was meinen Sie damit, dass ich Sie Deirdre nennen soll? Ist das jetzt Ihr Name oder was?“
Deirdre wurde noch etwas schneller. „Natürlich ist das nicht mein Name“, sagte sie. „Eigentlich heiße ich …“ Es folgte eine kurze Abfolge blubbernder und knackender Geräusche, die in Anas Kopf Bilder von kochendem, dickflüssigem Sirup entstehen ließen. „Etwas schwierig auszusprechen für Menschen, findest du nicht? Also nenn mich Deirdre.“
Ana wurde wieder langsamer. Keine ihrer Fragen war beantwortet worden, dafür waren eine ganze Reihe neuer aufgetaucht.
„Wir sind hier!“, verkündete Deirdre plötzlich und verschwand durch eine Tür.
Wie groß war dieses Raumschiff eigentlich?, fragte sich Ana. Die von Menschen gebauten, die sie kannte, waren ihr immer eng und vollgestopft erschienen, eher wie verwinkelte Wandschränke als ein Ort, an dem man dauerhaft leben konnte. Dieser Gang war zwar niedrig, aber verglichen mit Deirdres Körpergröße schien er den Proportionen eines Wohnungsflurs nahe zu kommen.
All diese Gedanken waren wie weggewischt, als sie den Maschinenraum sah.
Überall summte es, als ob sich ein Bienenschwarm in den Wänden niedergelassen hätte. Lichter blinkten, andere leuchteten konstant, allerdings alle in derselben Farbe: einem grellen Gelbton. Dünne, metallische Linien zogen sich von Panel zu Panel über die Wände, verschwanden im Boden oder der Decke und pulsierten mit schwachem Licht.
„Es dauert nicht mehr lange“, sagte Deirdre. Ihr Blick jagte durch den Raum. „Jeden Moment ist es soweit.“
„Du hast meine anderen Fragen noch nicht beantwortet“, sagte Ana. „Woher weißt du das alles?“
Deirdre drehte sich zu ihr um. „Ich kann dir alles erklären, sobald der Kurzschluss behoben ist.“ In ihren bleichen, grünen Augen glaubte Anna, Verzweiflung zu sehen. „Du hast gesagt, dass du dich mit Technik auskennst, du musst es schaffen.“
„Das habe ich nicht gesagt“, sagte Ana. Langsam stieg Panik in ihr auf. „Ich meine, es stimmt, ich kenne mich aus, aber ich – ich meine, ich habe so etwas noch nie gesehen! Ich weiß nicht, wie es funktioniert!“ Hatte Deirdre nicht gesagt, dass das Schiff explodieren würde? Was, wenn sie hier starb? Sie schwankte. Würde man eine weitere Mission losschicken, um nach ihr zu suchen? Ihr Atmen kam ihr lauter vor als sonst, viel zu laut. Es hallte in ihrem Helm wieder, ließ das Glas beschlagen. Sie musste zurück zur Kapsel. Zurück zum Schiff…
„Da!“ Deirdre stieß etwas aus, das vermutlich ein Fluch war. Unter einer Luke im Boden quoll Rauch hervor. Sie warf sich auf die Knie und riss sie auf.
Ana blinzelte. Irgendetwas piepte. Deirdre sah zu ihr hoch.
„Du musst es reparieren“, beharrte sie. „Ich wusste diesmal, wo es passieren würde, wir sind rechtzeitig hergekommen, du musst es reparieren, sonst ...“
Ana nickte und kniete sich neben Deirdre. Seltsamerweise fühlte sich ihr Kopf wieder vollkommen klar an. Jetzt, wo die Rauchwolke sich im Raum verteilt hatte, war es einfacher, das Innere des Verteilers zu sehen – zumindest vermutete sie, dass es sich bei der Öffnung im Boden um einen Verteiler handelte. Die metallenen Linien bündelten sich hier und summten lauter, aber irgendetwas stimmte nicht. Eines der Bündel flackerte stark. Ana folgte dem Verlauf der Linien mit dem Blick. Tatsächlich! Kurz vor der Wand, an einer Stelle, an der eine weitere Linie sich zum Bündel gesellte, waren sie unterbrochen. Ein hässlicher graubrauner Fleck, der Ana an verbranntes Papier erinnerte, verfärbte das Linienbündel über mehrere Zentimeter.
Anas Fingerspitzen zuckten. Die Technik war ihr völlig fremd, aber sie konnte ein gewisses System darin erkennen. Zweifellos gab es Parallelen zur Technologie der Erde, zu Stromkreisen und Motherboards. Trotzdem, sie hatte nicht den geringsten Schimmer, was es damit auf sich hatte. Verdammt, sie wusste nicht einmal, welche Materialien verwendet worden waren! Leiteten sie überhaupt Elektrizität? Oder war es etwas vollkommen anderes, womöglich etwas, das menschliche Forscher noch überhaupt nicht entdeckt hatten?
Sie war zum ersten Mal seit langer Zeit absolut ratlos.
Sie blickte vom Verteiler auf zu Deirdre und ihr Gesichtsausdruck schien Bände zu sprechen. Deirdres Augen weiteten sich.
Ana schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht reparieren.“
„Versuch es!“, forderte Deirdre. „Wenn du es nicht schaffst ...“
„Ich weiß!“, rief Ana. „Ich weiß! Aber wie soll ich etwas reparieren, das ich nie in meinem Leben gesehen habe? Ich weiß nicht mal, was das hier überhaupt ist, geschweige denn, wie es funktioniert!“
Sie starrte auf den Verteiler. Ihre Kehle brannte. Welcher Vollidiot baute auch ein Schiff, das von einem einzigen Kurzschluss lahmgelegt werden konnte?
Moment. Das war wirklich sonderbar.
„Deirdre“, begann sie. „Das Schiff wird nicht explodieren. Oder?“
„Was?“
„Kurzschlüsse passieren ständig, aus allen möglichen Gründen. Wenn dieses Schiff bei jedem Kurzschluss in die Luft fliegen würde, hätte es wohl kaum gebaut werden können. Etwas, das bei jedem winzigen Problem komplett zerstört wird, wäre nicht stabil genug, um durch den Weltraum zu fliegen, geschweige denn, überhaupt abzuheben und zu landen.“ Sie sah Deirdre forschend an. Deirdres Blick huschte hin und her, als ob sie in den Mustern der leuchtenden Linien nach Erklärungen suchte.
„Deirdre. Was ist hier wirklich los?“
„Das Schiff wird nicht explodieren“, gab Deirdre zu. Anas Schultern sackten nach unten, als eine Welle der Erleichterung sie überrollte. Aber Deirdre sah noch immer nervös aus.
„Was wird dann passieren?“
„Das hier ist ein Testflug“, sagte Deirdre. „Ich sollte eine neue Sicherheitsmaßnahme testen. Eure Schiffe nutzen Zeitreise-Mechanismen, oder? Nur deshalb ist es möglich, so weite Strecken zurückzulegen. Ihr bewegt euch durch den Raum, aber kaum durch die Zeit. Dieses Schiff nutzt dasselbe Prinzip.“ Ihre dünnen Finger schlossen sich zur Faust. „Wenn das System einen größeren Schaden meldet, schickt das Schiff seine Passagiere ein Stück weit in der Zeit zurück. Die Mannschaft kann das Auftreten des Fehlers verhindern und spart so die Ressourcen, die eine Reparatur verbrauchen würde. Es ist nicht darauf ausgelegt, dass der Schaden von außen kommt. In wenigen Minuten reise ich zurück. Du nicht, weil du nicht als Passagier registriert wurdest, bevor der Schaden aufgetreten ist. Stattdessen kommst du wieder durch das Wurmloch.“
Informationen schwirrten durch Anas Kopf, wie Puzzlestücke, die sich allmählich zu einem Bild zusammenfügten. Dieses: "Du hast gesagt, dass du dich mit Technik auskennst." Deirdre hatte die Kapsel sofort an ihr Schiff angedockt. Sie sprach ihre Sprache, und das nahezu perfekt.
Oh.
„Wie oft ist es schon passiert?“, fragte sie.
Deirdre senkte den Kopf. „Ich habe aufgehört zu zählen.“
Ana sank nach vorne.
„Die ersten Male habe ich noch nicht verstanden, was passiert war“, sagte Deirdre. „Dann habe ich angefangen, mit deiner Kapsel zu kommunizieren, was allein schon ein paar Schleifen gedauert hat. Noch mehr, bis ich angefangen habe, deine Sprache zu verstehen.“ Jetzt, wo sie mit der Wahrheit herausrückte, sprach sie immer schneller. „Irgendwann konnten wir uns unterhalten. Ich habe dich nach einem menschlichen Namen gefragt, und du hast gesagt, Deirdre, weil du den Namen schon immer mochtest. Mit jeder Schleife habe ich etwas mehr über dich erfahren, und als du beim letzten Mal gesagt hast, du wärst Ingenieurin, da dachte ich, ich wüsste, was ich tun muss. Ich dachte …“
Deirdres Hände zitterten.
„Du dachtest, du könntest es beenden“, sagte Ana leise. „Oh Gott, es tut mir so leid.“
„Das muss es nicht“, sagte Deirdre. Sie lehnte sich gegen die Wand des Raums und streckte die Beine aus. Ana rutschte um die noch immer geöffnete Luke und setzte sich neben sie.
„Wie lange dauert es noch?“, fragte Ana.
„Nicht mehr lange“, antwortete Deirdre. Sie schwieg einen Moment, dann fuhr sie fort: „Weißt du, was das Schlimmste ist? Nach all diesen Schleifen habe ich so viel Zeit mit dir verbracht. Ich weiß, dass deine Lieblingsfarbe orange ist. Ich weiß, dass du zwei kleine Brüder hast. Ich weiß, dass du am neunzehnten Februar Geburtstag hast, auch wenn ich immer noch nicht weiß, welcher Tag das in meiner Zeitrechnung ist oder warum Menschen der Tag ihrer Geburt so wichtig ist. Aber du wirst mich nie kennen.“
Ana zuckte zusammen, als ein Gong durch das Schiff dröhnte. Eine scheppernde Stimme klang durch die Lautsprecher, in derselben gurgelnden Sprache, die Deirdre vorhin benutzt hatte.
„Dann erzähl mir von dir“, sagte sie. „Und von deinem Planeten.“
„Es bringt nichts“, sagte Deirdre. „Egal, was ich dir erzähle, in der nächsten Schleife wirst du es nicht mehr wissen. Weißt du, wie es ist, wenn jemand, der dir wichtig ist, dich nicht mehr erkennt?“
„Trotzdem!“, sagte Ana. „Ich will dich kennen, auch wenn es nicht lange anhält.“
Deirdre seufzte.
„Ich habe keine Lieblingsfarbe“, sagte sie. „Wir sind praktisch farbenblind. Aber ich habe eine Lieblingsform, wenn das vergleichbar ist. Ich mag Sechsecke.“ Sie sah Ana an, die nickte.
„Ich mag es, lange zu schlafen, aber auch, lange wachzubleiben. Bei der Nacht ist die Welt ein anderer Ort. Das gefällt mir auch am Weltraum – es ist irgendwie immer Nacht.
Der Planet von dem ich komme, hat auch eine Atmosphäre, wie deiner, aber statt Sauerstoff enthält sie hauptsächlich Kohlendioxid, und wir haben auch keine Ozonschicht. Deshalb sind wir die meiste Zeit unter Wasser oder im Schlamm. Allerdings gibt es immer mehr Sauerstoff in der Luft, wegen der Pflanzen. Es gibt sie evolutionstechnisch gesehen noch gar nicht so lange auf unserem Planeten, erst ein paar tausend Jahre. Aber seit es sie gibt, wird das Atmen immer schwerer, und sie breiten sich rasant aus. Trotzdem mag ich sie. Seit es sie gibt, haben sich die Küsten verändert.“ Deirdre seufzte. „Früher gab es nur Kies und Steine, Sand und Schlamm, aber seit es dort Pflanzen gibt, sind sie so viel interessanter geworden.“
Die Stimme aus dem Lautsprecher kam wieder. Sie sagte einige Worte, bevor sie mit etwas begann, das wie ein Countdown klang. Deirdres Augen blieben tränenlos, aber ihr Gesicht war menschlich genug, dass Ana ihre Gefühle herauslesen konnte. Trauer, gemischt mit Angst.
Ana wusste nicht, was sie tun sollte, und das war vielleicht das Schlimmste. Sie wollte sagen, dass sie sie nicht vergessen würde, dass sie gemeinsam der Zeitschleife entkommen würden, aber sie wusste, dass sie ihre Versprechen nicht würde halten können. Stattdessen nahm sie Deirdres Hand. Vielleicht konnte sie ihr auf diese Weise etwas Trost spenden.
Der Countdown schien sich dem Ende zu nähern.
„Aber weißt du, was das Irrsinnigste an all dem hier ist?“, fragte Deirdre. „Obwohl du technisch gesehen der Grund dafür bist, dass ich in dieser Zeitschleife feststecke, hätte ich ohne dich nicht überlebt. Alleine hätte ich schon längst den Verstand verloren. Und ich weiß, dass du alles, was ich dir sage, gleich nicht mehr wissen wirst.“ Mit den letzten Worten wurde sie immer schneller. „Aber ich wollte dir noch sagen, ich ...“
Mit einem schrecklichen, knackenden Geräusch endete der Countdown.
„Sind Sie bereit?“
Die Astronautin lächelte, obwohl die Nervosität ihren Magen in ein Kaleidoskop zu verwandeln schien, das jemand so oft geschüttelt hatte, dass es ein Chaos aus wirren Formen geworden war.
„Natürlich.“
„Dann schalten wir jetzt auf Autopilot. Achtung …“