Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2025

Emma Glück

Licentia (lat. Freiheit)

Erst schien die Wüste ihr wie ein Ausweg, eine Fluchtmöglichkeit aus der Hölle, in die sie geboren worden war, doch nun war sie sich nicht mehr so sicher, ob das je der Wahrheit entsprochen hatte.

Die Sonne prallte auf sie herunter, und trotz ihrer Kappe fing ihr Kopf an weh zu tun. Ob es wirklich an der Sonne lag oder am immer schlimmer werdenden Wassermangel konnte sich nicht sagen und es war ihr ehrlich gesagt auch egal, sie wünschte sich einfach nur, dass es endlich stoppen würde.

An den Hunger hatte sich die 23-Jährige schon vor langer Zeit gewöhnt, denn Hunger ist anders als Durst. Hunger nagt an dir, bis nur noch deine Knochen übrig bleiben, er ist zwar genauso tödlich, aber er versteckt es besser. Durst fühlt sich schon nach einigen Stunden unerträglich an.

An die Zeiten ohne Durst erinnerte sie sich mittlerweile nur dunkel. Ihre Vergangenheit in der Stadt war trotz der kurzen Zeit in Wüste bereits nur noch eine dunkle Erinnerung, und je weiter sie sich von ihr entfernte, desto mehr drohten alle guten Erinnerungen, und damit die Gründe, die sie so lange dort gehalten hatten, zu erlöschen.

Die Stadt, aus der sie kam, war die letzte noch existierende Stadt, allerdings nur, wenn man ihren Schulbüchern vertraute. Laut diesen war Erde 034 der letzte Planet mit menschlichem Leben aufgrund von Naturkatastrophen auf den Vorgängern. Erde 001 war durch eine Überflutung der meisten Kontinente unbewohnbar geworden, die Ursache für die Fluten war allerdings nicht bekannt. An die anderen Gründe, warum die Planeten untergegangen waren, konnte sie sich nicht mehr erinnern, der Erdkundeunterricht lag nun schon Jahre zurück und hatte sie damals nicht im Geringsten interessiert.

Im Laufe der Jahre, in denen die Menschheit Erde 034 bevölkerte, war es nun auch hier zu einer Dürre gekommen. Der gesamte Planet, der mehrere Lichtjahre entfernt von der tatsächlichen Erde lag, war nun eine einzige Wüstenlandschaft. Bis auf die Stadt. Seit Jahren wurde nach einem weiteren Exoplaneten gesucht, der nah genug war, um die erneute Umsiedlung auf die zukünftige Erde 035 starten zu können, doch bisher erfolglos. Solange gab es nur einen sicheren Ort. Die Stadt.

Geregnet hatte es auf dem ganzen Planeten schon seit Jahren nicht mehr. Woher das Wasser, das sie in der Stadt benutzten, kam, wusste niemand, da die AfgZ (Agentur für geregeltes Zusammenleben) ihre Geheimnisse gerne für sich behielt, jedoch war ihre Vermutung, dass es irgendwo aus den Tiefen des Bodens hochgepumpt wurde.

Die Agentur wurde nach dem ... Unfall gegründet, der zu der Wüste geführt hatte, ein anderes Geheimnis der AfgZ. Theorien zu dem, was passiert war, gab es, doch die AfgZ vertuschte diese mit größter Sorgfalt.

Einige Jahre hatte dies problemlos funktioniert, doch je länger die Suche nach dem nächsten Exoplaneten dauerte, desto unruhiger wurden die Menschen. Einige machten den Fehler, Fragen zu stellen, und wenn die AfgZ eines nicht mochte, waren es Fragen. Also verschwanden Leute. Nur vereinzelt und immer von einem Tag auf den anderen. Gerüchte gab es viele, doch die zwei plausibelsten waren, dass die AfgZ Leute verhaftete, die ihr zu neugierig waren, oder dass diese in die Wüste flohen, so wie sie es getan hatte.

Je weiter die junge Frau jedoch hinausging, desto mehr verlor sie den Glauben an die zweite Theorie.
Dennoch hatte sie ihre Flucht keine Sekunde bereut. Zwar waren ihre Hoffnungen von Menschen, die sich vom Leben in der Stadt losgesagt hatten und nun laut, bunt und völlig frei lebten, nicht erfüllt worden, doch alles war besser als das Leben in der Stadt.
Trotzdem war die Wüste ihr nicht ganz geheuer, da sie von Zeit zu Zeit auf Knochen stieß. Nie hatte sie sich diese genauer angeschaut, doch ein mulmiges Gefühl sagte ihr, es wären menschliche Knochen. Die Frage war nur, ob es sich dabei um Überbleibsel des Unglücks handelte oder um die Flüchtlinge vor ihr.
Selbst wenn es sich um Letztere handelte, umkehren war nun keine Option mehr, denn mit ihrer Flucht hatte sie es wahrscheinlich bereits auf die schwarze Liste der AfgZ geschafft, und die Agentur würde sie mit Sicherheit auf eine weitaus unangenehmere Art und Weise verschwinden lassen.

Da die Wüste früher einmal ganz normales Land voller Städte gewesen war, kam es nicht selten vor, dass sie auf die Ruinen alter Gebäude stieß. Mal waren es Wohnsiedlungen, deren Farben und Formen sie total überraschten, da sie nur an die schwarz-weißen Kästen in der Stadt gewöhnt war, doch andere Male, wenn sie mehr Glück hatte, traf sie auf Supermärkte und alte Tankstellen, die sie plündern konnte.
Wasser, Konservendosen und andere Nahrungsmittel, deren Verfallsdatum noch nicht allzulange abgelaufen war, sah sie gerne, aber auch andere Dinge, wie Kleidung und Schuhe, da ihre Sachen nach den Wochen oder Monaten unablässigen Wanderns durch die Wüste extrem abgenutzt waren. Sie war einmal auf ein Zelt gestoßen, das sie eine Zeit lang jede Nacht aufgestellt hatte, doch das laute Flattern aufgrund des Windes hatte sie nicht schlafen lassen. Auch vor dem Sand hatte es sie nicht geschützt, da dieser immer irgendeine Ritze gefunden hatte, durch die er eindringen konnte, also hatte sie das Zelt zurückgelassen und stattdessen versucht, nachts wenigstens einen Felsen zu finden, hinter dem sie sich zusammenkauern konnte, oder in einem der Gebäude unterzukommen.
Der Gedanke, einfach in einem dieser verlassenen Gebäude zu bleiben, war ihr schon öfter gekommen, doch sie wusste, dass ihr die Konserven irgendwann ausgehen würden und sie spätestens dann weiterziehen müsste, sodass sie es gar nicht erst riskieren wollte, sich an einen der Orte zu gewöhnen.

Mittlerweile lief sie schon seit einigen Tagen herum, ohne auf ein Gebäude zu stoßen, und so irrte sie einfach ziellos durch die Wüste, von Hunger und Durst zermürbt, da ihre Vorräte sich langsam dem Ende zuneigten und sie sparen wollte.

Normalerweise war ihr Blick beim Laufen auf den Boden gerichtet, doch nun war er voller Hoffnung oder eher Verzweiflung wie an den Horizont geklebt.

Die Sonne stach ihr trotz der Sonnenbrille, die sie in einem der Supermärkte gefunden hatte, in die Augen und blendete sie wie sonst auch. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass die Brille nichts brachte, doch sie mochte die rosige Farbe, in die die Welt getaucht war, wenn sie diese trug.


Endlich, nach Stunden des Umhertaumelns, sah sie einen mit jedem Schritt größer werdenden Punkt vor sich. Die Energie, die sie eigentlich bereits verlassen hatte, schien auf einmal zurück zu kommen, als sie so schnell, wie es der feine Sand ihr erlaubte, zu der Tankstelle lief. Sofort stürzte sie hinein und begann umgehend mit der Durchsuchung, die mit der Zeit zur Routine geworden war.

Während sie wühlte und suchte, hörte sie in ihrer Hektik erst nicht das Prasseln gegen die Wände der Tankstelle, doch als sie schließlich hochblickte und kleine Lichtstrahlen durch die verschmutzten Fenster bemerkte, dämmerte es ihr.

Es regnete.

Das erst leise und nun immer lauter werdende Prasseln kannte sie nur aus alten Aufnahmen und Erzählungen, sie selbst war zu jung, um je den Regen erlebt zu haben. In ihren 23 Jahren auf diesem Planeten war es nicht mehr dazu gekommen, und nun, da sie das Wasser in ihr bisher unbekannten Mengen vom Himmel fallen sah, verstand sie endlich, warum die Älteren soviel darüber sprachen.

Die Frau rannte hinaus wie ein aufgeregtes Kind und schnappte sich ein paar ihrer leeren Flaschen und andere Behälter, die sie auf die Schnelle finden konnte. Mit zitternden Händen stellte sie diese auf, um so viel Wasser wie möglich aufzufangen. Es würde schwer zu schleppen werden, doch die Menge an Wasser, die sie in Supermärkten und Tankstellen fand, war meistens recht erbärmlich, und lieber hatte sie die nächsten paar Wochen Rückenschmerzen, als weiter unter diesem schrecklichen Durst zu leiden.

Als sie endlich damit fertig war, die Behälter aufzustellen, und sich erlauben konnte, die Vernunft loszulassen, fing sie an … zu tanzen.
Auch tanzen war ihr in der Stadt fremd gewesen, doch sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie die seltsamen Bewegungen, die sie machte, sonst nennen sollte.


Die Strafe für ihre Achtlosigkeit kam bereits einen Tag später.

Sie war krank.

Die nasse Kleidung und die Kälte der nächtlichen Wüste hatten ihrem schwachen Immunsystem den Rest gegeben, was sie allerdings erst bemerkte, als sie bereits einige Kilometer gelaufen war, da sie an Kopfschmerzen und Müdigkeit gewohnt war. Als es im Laufe des Tages allerdings immer schlimmer wurde, sie trotz der prallen Wüstensonne anfing zu zittern und die Müdigkeit irgendwann drohte, sie zu übermannen, wurde ihr klar, dass es heute anders war.

Diesmal war ihr Blick auf den Boden gerichtet, der Schweiß, der ihre Nase hinunterlief, tropfte auf die Erde, wie der bereits getrocknete Regen letzte Nacht. Ihre einzige Erinnerung an das Wunder gestern Abend war das Gewicht der Wasserflaschen, die ihren Weg gleichzeitig erschwerten und ihr Mut gaben.

Sie schaffte es noch einige hundert Meter, bis die Welt um sie herum anfing sich zu drehen und sie nicht mehr wusste, wo genau oben oder unten war, sodass sie sich hinsetzte oder wohl eher fallen ließ. Ihr Kopf dröhnte und alles tat ihr weh, der Sand, der nun in ihre Kleidung gerutscht war, machte es alles andere als besser, doch zum Ausschütteln hatte sie keine Kraft und noch genug Vernunft, um zu wissen, dass es nichts bringen würde. Sie trank einen Schluck Wasser in der Hoffnung, dass es die Kopfschmerzen lindern würde, aber es half nichts. Wonach sie sich in diesem Moment am meisten sehnte, war ein schattiges Plätzchen, selbst ein kleiner Felsen wäre genug gewesen, doch vor ihr erstreckte sich nichts als flache, trostlose Wüste, und die Tankstelle lag mittlerweile zu weit hinter ihr um umzukehren.

Obwohl sie wusste, dass sie weiter gehen musste, konnte sie sich in diesem Moment nicht dazu bringen, wieder aufzustehen. Ihre Beine fühlten sich schwer an, und auch nur der Gedanke, sich zu bewegen, erst recht jetzt, wo ihre Gliedmaßen wehtaten und ihr Kopf bei jeder noch so kleinen Bewegung von Schmerzen durchzuckt wurde, brachte sie schon fast zum Weinen, sodass sie sich einfach hinlegte.

Aufgeben wollte sie es nicht nennen, sie erzählte sich selbst, dass sie wieder aufstehen und weiter machen würde, doch wusste ein Teil von ihr bereits, dass sie sich mit Sicherheit so bald nicht mehr bewegen würde, und so blieb sie einfach liegen. Selbst als der Sand langsam anfing, sie zu bedecken, als würde er ihr süße Träume wünschen … oder versuchen, sie in den Abgrund zu ziehen.


Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte, doch als sie langsam wieder zu sich kam, spürte sie, dass es kühler war und dass der Boden, auf dem sie lag, nicht mehr aus Sand bestand. Erst kümmerte sie sich nicht darum, da es deutlich weicher und bequemer war, was ihr vom Schlaf immer noch vernebeltes Gehirn nur als Gewinn ansah, doch als sie endlich realisierte, dass dies bedeutete, dass sie nicht mehr auf dem Wüstenboden lag, sondern auf einer Matratze, riss sie sofort die Augen auf.

Sie hatte beinahe erwartet, alles nur geträumt zu haben, dass sie, wenn sie aufwachte, wieder in ihrem Bett in der Stadt liegen würde, doch das tat sie nicht.

Auch wenn sie den Ort nicht kannte, wusste sie, dass er nicht in der grauen Stadt liegen konnte, aus der sie kam. Nein, dieser Raum war knallbunt. Die Wände waren ein sanftes Hellblau und überall hingen irgendwelche halb zerrissenen und ausgeblichenen alten Poster, Bilder und Straßenschilder, die vermutlich irgendwo in den Ruinen der alten Häuser und Straßen gefunden worden waren. An der Wand lehnten mehrere Gitarren und überall standen Boxen voll mit Gegenständen, die sie in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen hatte.

Vorsichtig setzte sie sich auf und schaute sich nach der Person um, die sie hierher gebracht hatte.
Natürlich war, wer immer hier wohnte, kein Mitglied der AfgZ, soviel stand fest, doch das hieß noch lange nicht, dass man ihm trauen konnte.

Ein paar Minuten saß sie einfach nur da, doch schließlich überwand sie ihre Angst, lief auf die Tür zu und drückte schnell den Griff herunter, um sich selbst nicht die Möglichkeit zu geben zu zögern.

Der nächste Raum war genauso voll und bunt dekoriert, doch dieses Mal war er nicht leer.

Auf einer abgerockten, einst roten Couch, die nun mit Stofffetzen verschiedenster Farben zusammengeflickt worden war, saß eine Gruppe von Leuten, die sich sofort zu ihr umdrehten, als sie die Tür öffnete.

Sie alle sahen … wild aus.

Zwei Männer und eine Frau, wilde Frisuren und bunte Kleidung, deren Farben so wenig zusammen passten, dass es schon beinahe in den Augen stach.

„Oh. Du bist wach“, sagte die Frau und brach endlich die unangenehme Stille, die im Raum geherrscht hatte.

„Wer seid ihr? Was ist das hier?“, fragte sie, doch ihr Hals war so trocken, dass nur die Hälfte von dem, was sie sagte, verständlich war, dennoch schien die Gruppe zu wissen, was sie versucht hatte zu fragen.

„Das hier ist das Hauptquartier und wir sind die Regenbringer.“

Die „Regenbringer“ waren, wie die Frau, die sich später als Pluvia vorstellte, erklärte, eine Gruppe von Flüchtlingen aus der Stadt, genau wie sie. Allerdings waren sie zu dritt gewesen und mit deutlich besserer Vorbereitung geflohen. Pluvia und ihr Bruder Novis waren Geschwister und hatten schon als sie klein waren gemerkt, dass sie nicht wirklich in die Stadt gehörten, dass die Regeln ihnen zu streng waren und sie mehr aus ihrem Leben machen wollten, als nur bis zu ihrem Tod für die AfgZ zu arbeiten. Neo war erst später dazu gestoßen. Sie hatten sich beim Suchen nach den verlorenen Tunneln, die aus der Stadt führten, getroffen. Dieselben Tunnel, die die 23-Jährige selbst für ihre Flucht benutzt hatte.

Die Drei hatten sich ihre Namen erst hier ausgedacht, um sich von ihrer Vergangenheit abzugrenzen, und sie hatte irgendwie das Gefühl, dass es unpassend wäre, nach ihren „echten Namen“ zu fragen, also ließ sie es bleiben. Die echten Namen waren sowieso nur die, die ihnen von der AfgZ zugeteilt worden waren. Absolut bedeutungslos, genau wie ihr eigener.

Je mehr die Regenbringer sprachen, desto mehr fühlte sie sich verstanden in den Gedanken, die sie schon seit Jahren hatte und sich nie getraut hatte auszusprechen. Sie hatten Antworten auf Fragen, die sie sich schon seit Jahren gestellt hatte, Antworten, auf die sie nie alleine gekommen wäre, und sie hatten Pläne, die sie sich nie getraut hätte, alleine zu schmieden.

Sie wollten den Regen zurückbringen.

Wasser.

Natur.

Und Stück für Stück, nachdem sie die Teile der Wüste wieder bewohnbar gemacht hätten, Menschen aus der Stadt retten.

War es Wunschdenken? Vermutlich. Doch es war ein Ziel, etwas, auf das sie hinarbeiten und an das sie glauben konnten, anstatt nur sinnlos durch die Wüste von einer Raststätte zur anderen zu torkeln, ohne zu wissen, ob es je aufhören würde.

„Okay. Was ist der Plan?“, fragte Licentia.