Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2021

Duaa-E Mahmood

In der Paradieskolonie (Drehbuch) von Duaa-E Mahmood (nach Franz Kafka „In der Strafkolonie“)

 

Einblendung:

Auf die Leinwand werden die Tagesnachrichten über den Kampf gegen die Pandemie projiziert. Die Nachrichtensprecher berichten über die Anzahl von Opfern und die kurzfristige Wirkung von Impfstoffen wegen des ständigen Auftretens von Virusmutanten.

(leise Stimmen)

 

(langsam lauter werdende Stimme)

Eine Nachrichtensprecherin berichtet über den neuen Impfstoff mit der speziellen Wirkung gegen mutierende Viren, der gegen alle zukünftigen Mutanten wirksam sein wird. Auf der Leinwand wird eine Insel im Ozean gezeigt.

Luftaufnahmen: blauer Himmel, blaues Wasser, große Gebäudekomplexe in Weiß, der Hafen, viel Grünes. Glückliche Gesichter von Männer und Frauen sind als Fotos auf der Leinwand zu sehen und am Ende ist ein Standbild von einer modernen Insel mit Untertitel „Paradieskolonie“.

 

Personen: Denis(Journalist), Chefredakteur, Offizier, Fischer, Soldaten, Mann

 

SZENE "Redaktion - Abend"

Es ist sehr laut im Großraumbüro mit vielen Schreibtischen und PCs. Der Lärm kommt von den Filtergeräten, welche die Luft reinigen und desinfizieren. Nachrichten sind auf mehreren Monitoren an den Wänden zu sehen. Das Licht ist hell.

Viele Männer und Frauen besprechen die letzte Nachricht. Einige Personen rufen mit Smartphones an. Ein älterer Mann kommt aus dem Büro in den Großraum und ruft jemanden. Ein Mann springt vom Schreibtisch auf und geht zu dem älteren Mann, sie verschwinden im Büro.

 

Später

Zwei Männer sitzen sich gegenüber. Der jüngere Mann liest irgendwas auf dem Blatt Papier und unterschreibt es. Der ältere Mann raucht. Im Hintergrund kann man durch die geöffnete Tür zum Großraumbüro einige Gestalten sehen, die sich bewegen, Kaffee trinken, an Schreibtischen sitzen, an PCs arbeiten. Der jüngere Mann verlässt den Raum durch diese Tür. Er sagt nichts. Er macht eine Bewegung mit der Hand und schließt die Tür.

 

SZENE "FLUGHAFEN - NACHT"

Ein kleiner Flughafen. Der Wind ist stark. Im Hintergrund steht ein Helikopter, weiter entfernt sind einige kleinere Flugzeuge zu sehen.

DENIS aufgeregt:

Auf diese Story habe ich die ganze Zeit gewartet. Und ich bekomme die neue Impfung. Ich gratuliere mir. Aber ich verdiene beides. Meine Reportagen mache ich sehr gut …

Es ist jetzt 23:00 Uhr. Die letzten sechs Stunden haben sie mich ständig getestet und nichts gefunden. Sie haben nur meine Zeit verschwendet. Ich wollte gleich fliegen und arbeiten.

 

SZENE "FLUGZEUG - NACHT"

Ab diesem Zeitpunkt trägt jeder eine Maske.

DENIS

Wir landen bald und ich werde vom Offizier abgeholt, auf dem Foto sieht er normal aus. Ich hoffe, dass er mich nicht nervt, dass man mir alles zeigt und ich mit dem Professor-Kommandanten mein Interview in Ruhe machen kann. Und heute Abend bekommt unser Chefredakteur die Story des Jahres und ich meine Freiheit. Wenn diese Impfung so gut wirkt, wie sie erzählen.

Er sieht glücklich aus und er lächelt. Er schläft ein.

DENIS

Wir landen in fünf Minuten. Es ist hell. Die Sonne geht auf. Ich muss die Maske wechseln, der Wecker piepst. Der Pilot weiß, was er macht. Ich vertraue ihm. Diese Paradiesinsel ist klein.

Alle im Flugzeug applaudieren. Denis steigt aus und geht zu einem Mann in Uniform. Der Offizier vom Foto.

 

Zwei Stunden später.

SZENE „HOTEL - HALLE - MORGEN"

Die Welcome-Party steigt im Hotel. Die Anwesenden nippen an Getränken und unterhalten sich. Denis sitzt in einer Gruppe. Ein Mann aus der Gruppe steht auf und spricht. Er ist ca. 40 Jahre alt, groß, sportlich, hat braune Haare. Er trägt Sportschuhe, weißes Hemd und Shorts.

MANN

Ich möchte uns allen dazu gratulieren, dass wir ausgewählt wurden. In zwölf Stunden werden wir auf der Paradiesinsel geimpft. Wir können ein neues Leben anfangen und werden keine Angst vor neue Mutanten haben. Mein altes Leben möchte ich vergessen. Morgen sind wir auf der anderen Inselseite, im Paradies.

Alle lachen und sind zufrieden, nur Denis sieht ein bisschen verwirrt aus. Er spricht mit einer Frau und sie zeigt auf den Hafen. Denis kommt zum Offizier. Offizier ist 30 Jahre alt. Er ist groß, sportlich, hat eine kurze Frisur und trägt Militärhut und Paradeuniform.

Die Temperatur auf der Insel beträgt 35 Grad.

OFFIZIER

Und wie geht es Ihnen? Sind Sie auch glücklich? Ich werde Ihre Story in die Redaktion schicken. Wann sind Sie fertig? Haben Sie schon angefangen? Ich zeige Ihnen das Labor.

DENIS

Diese Uniformen sind doch für die Temperaturen zu schwer.

OFFIZIER

Gewiss. Aber sie bedeuten die Heimat; wir wollen nicht die Heimat verlieren.

DENIS 

Wovon hat der Mann da eben geredet? Was heißt das, ein neues Leben?

OFFIZIER

Sie haben den Vertrag unterschrieben. Sie sind einverstanden, dass Sie die Impfung bekommen.

DENIS

Ja, natürlich.

OFFIZIER sehr stolz:

Im Vertrag steht alles. Der Kommandant hat doch alles Ihrem Chefredakteur erzählt. Sie sollten glücklich sein. Ich warte schon lange auf die Impfung und stehe auf der Liste. Aber das Labor arbeitet sehr langsam und die Impfung dauert zwölf Stunden.

DENIS mit offenem Mund:

Warum so lange? Bin ich die ganze Zeit an eine Maschine angeschlossen? Kann ich dabei schreiben?

OFFIZIER

Sie können alles machen, was Sie wollen. Sie können nur den Raum nicht verlassen. Der Raum wird für zwölf Stunden geschlossen. Die Impfung ist ein Prozess. Wir treffen uns nach dem Mittagessen vor dem Labor. Ich zeige Ihnen, wie es funktioniert.

 

Denis ruft die Redaktion an. Er hat kein Netz. Er geht zum Hafen.

 

SZENE "HAFEN"

Ein alter Fischer holt Fische aus dem Boot. Er ist 50 Jahre alt, klein, hat keine Haare. Er trägt einen passenden Overall und Stiefel. Sein Boot ist alt, nur sein Motor ist sehr modern und stark. Das Netz sieht neu aus. Er holt Fische aus dem Boot und gibt sie einem Koch.

DENIS

Hallo! Wie geht es Ihnen?

FISCHER

Gut, danke.

DENIS

Wohnen Sie auch auf der Insel?

FISCHER

Nein, ich bringe nur Fisch her.

DENIS

Sind Sie geimpft?

FISCHER

Nein, ich trage immer die Maske.

DENIS

Oh …

FISCHER

Ich komme vom Festland. Und ich hole die Post ab. Hier gibt es kein Netz. Nur im Labor gibt es Empfang. Heute Abend fahre ich zurück. Sie können auch etwas schreiben, das letzte Mal (Er lacht).

DENIS

Warum sagen Sie das? Sterbe ich?

FISCHER

Nein, ich wollte Ihnen keine Angst machen. Wissen Sie, dass alle nach der Impfung hier im Paradies bleiben? Sie können nicht zurück. Sie dürfen schreiben. Aber Sie schreiben keine Post.

DENIS hilflos

Ok ... Das habe ich nicht gewusst … Nehmen Sie mich mit? Sie können alles nehmen, was ich habe, aber bringen sie mich bitte zurück. Hier ist das Geld, das ich von meinem Chefredakteur für diese Reise bekommen habe. Er hat mir aber nicht gesagt, warum es so viel ist ...

FISCHER

Ich fahre um 20 Uhr los. Und ich darf hier nicht lange warten. Seien Sie pünktlich!

DENIS

Bis heute Abend!

 

SZENE "LABOR"

Das Labor befindet sich in einem großen Gebäude mit mehreren Modulen für die Impfung und für die Produktion im Hochsicherheitsblock. Alle Türen sind geschlossen und mit Videokameras kontrolliert. Ein anderer Offizier kommt mit dem Mann und sie gehen hinein. Der Mann winkt Denis. Denis winkt zurück. Ein Soldat kommt heraus. Die Tür schließt automatisch. Noch ein Soldat kommt hinzu. Sie rauchen.

SOLDAT #1

Bist du schon fertig?

SOLDAT #2

Nein, noch sechs Stunden. Und bei dir?

SOLDAT #1

Ich warte noch. Der Patient kommt bald.

SOLDAT #2

Da kommt dein Offizier.

 

Der Offizier kommt näher. Er grüßt Denis. Beide betreten den Raum.

OFFIZIER

Es handelt sich um eine ganz neue Technologie. Sehen Sie sich diese Maschinen an. Bis jetzt war noch Handarbeit nötig, jetzt aber arbeitet das System ganz allein. Es kommen natürlich Nebenwirkungen vor; ich hoffe zwar, es wird heute keine eintreten, aber immerhin muss man mit ihnen rechnen. Die Ventilatoren sollen ja zwölf Stunden ununterbrochen im Gang sein. Aber wenn auch Störungen vorkommen, so sind sie doch nur ganz geringfügig und sie werden sofort behoben.

Wollen Sie hinein?

DENIS

Nein, noch nicht. Ich möchte noch die anderen Impfkammern sehen. Und danach die Produktionsräume.

OFFIZIER

Ich weiß nicht, ob Ihnen der Kommandant das Prinzip schon erklärt hat. Diese Technologie ist eine Erfindung unseres früheren Kommandanten. Ich habe gleich bei den allerersten Versuchen mitgearbeitet und war auch bei allen Arbeiten bis zur Vollendung beteiligt. Der Verdienst der Erfindung allerdings gebührt ihm ganz allein. Haben Sie von unserem früheren Kommandanten gehört? Nicht? Nun, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, dass die Einrichtung der ganzen Paradieskolonie sein Werk ist.

Wir, seine Freunde, wussten schon bei seinem Tod, dass die Einrichtung der Kolonie so in sich geschlossen ist, dass sein Nachfolger, und habe er Tausend neue Pläne im Kopf, wenigstens während der letzten Monaten nichts von dem Alten wird abändern können. Unsere Voraussage ist auch eingetroffen; der neue Kommandant hat es erkennen müssen. Schade, dass Sie den früheren Kommandanten nicht gekannt haben! – Aber ich schwätze, und seine Erfindung steht hier vor uns. Sie besteht, wie Sie sehen, aus einer isolierten Impfkammer, integrierten Ventilatoren mit hoher Drehzahl und mehreren Düsen für die verschiedenen Impfaerosole. Es haben sich im Laufe der letzten Zeit für jeden dieser Teile gewissermaßen volkstümliche Bezeichnungen ausgebildet. Der erste heißt Room, die Ventilatoren heißen Aircondition und die Düsen heißen Deos.

DENIS

Deos? Wie Deodorant?

OFFIZIER

Ja, wie das Deo. Der Name passt. Die verschiedenen Medikamente und chemischen Stoffe sind entsprechend angeordnet, auch wird das Ganze wie ein Cocktail gemischt. Sie werden es übrigens gleich verstehen. Ich will nämlich den Apparat zuerst beschreiben und dann erst die Prozedur selbst ausführen lassen. Der nächste Patient kommt gleich. Sie werden ihr dann besser folgen können. Während der Prozedur dürfen Sie sich aber nicht körperlich anstrengen.

DENIS

Warum?

OFFIZIER

Sie spüren das später selbst. Es ist eine besonders präparierte Luft, darum ist sie für den Körper eine mittlere Belastung; ich werde auf Ihre Behandlung noch zu sprechen kommen.

DENIS

Wissen die Patienten, dass sie hierbleiben?

OFFIZIER

Sie wissen auch das nicht? Verzeihen Sie, wenn vielleicht meine Erklärungen ungeordnet sind; ich bitte Sie sehr um Entschuldigung. Die Erklärungen pflegte früher nämlich der Kommandant zu geben, der neue Kommandant aber hat sich dieser Ehrenpflicht entzogen; dass er jedoch einen so hohen Besuch nicht einmal von der Form unseres Konzepts in Kenntnis setzt, ist wieder eine Neuerung. Hier sind die betreffenden Erklärungen dazu des früheren Kommandanten.

DENIS

Beschreibungen des Kommandanten selbst? Hat er denn alles in sich vereinigt? War er Soldat, Konstrukteur, Biochemiker, Pressesprecher?

OFFIZIER

Jawohl! Unser Konzept klingt einfach. Dem Freiwilligen wird das Angebot gemacht, die neue Impfung zu bekommen und für Forschungszwecke hier zu bleiben. Um diese Beobachtungen rein zu führen, dürfen Sie keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Für immer!

DENIS

Kennen alle diese Bedingung?

OFFIZIER

Nein. Es wäre nutzlos, es jedem zu verkünden. Jeder erfährt es ja am eigenen Leib.

DENIS

Aber dass es Nebenwirkungen geben kann, weiß man doch?

OFFIZIER

Auch nicht.

DENIS

Man hat ja keine Gelegenheit abzusagen. Man sollte doch Gelegenheit haben, sich zu verteidigen.

OFFIZIER

Die Sache verhält sich folgendermaßen: Ich bin hier auf der Paradiesinsel zur Sicherheit bestellt. Trotz meiner Jugend. Denn ich stand dem früheren Kommandanten in allen Forschungsangelegenheiten zur Seite und kenne auch den Ablauf am besten. Der Grundsatz, nach dem ich handle, ist: Wir dienen der Forschung. Andere Institute können diesen Grundsatz nicht befolgen, denn sie sind vielköpfig und haben auch noch übergeordnete Institute über sich. Das ist hier nicht der Fall, oder war es wenigstens nicht beim früheren Kommandanten. Der neue hat allerdings schon Lust gezeigt, sich in meine Arbeit einzumischen, es ist mir aber bisher gelungen, ihn abzuwehren, und wird mir auch weiter gelingen. Sie wollten diesen Fall erklärt haben; er ist so einfach wie alle. Ein Hauptmann hat heute Morgen die Anzeige erstattet, dass ein Mann, der ihm als Diener zugeteilt ist, ihn ohne Maske bedient hat. Er hat nämlich die Pflicht, bei jedem Stundenschlag die Maske zu wechseln. Gewiss keine schwere Pflicht und eine notwendige, denn er soll sowohl zur Bewachung als auch zur Bedienung gesund bleiben, weil er keine neuartige Impfung hat. Als Strafe werde ich ihn ans Ende der Liste für die neue Impfung verschieben. Das ist der Sachverhalt.

Ist nun alles erklärt? Aber die Zeit vergeht, die nächste Impfung sollte schon beginnen.

DENIS

Wird der Kommandant der Impfung beiwohnen?

Ist er selbst geimpft?

OFFIZIER

Ja, gewiss! Ist das nicht der Traum vom jeden von uns? Leider bin ich noch nicht dran, weil ich keine besonderen Funktionen erfülle ... Aber Sie sind Journalist und können viel für uns tun.

 

SZENE "LABOR - ZENTRALE"

Ein Soldat sitzt im Raum mit vielen Monitoren und beobachtet die Impfkammern. Alles läuft wie immer normal. Vor der Impfkammer: alle Monitore zeigen Startbereitschaft. Denis wirkt nervös. Der Offizier ist sehr gespannt und konzentriert.

DENIS

Kommt der Kommandant?

OFFIZIER

Es ist nicht gewiss. Gerade deshalb müssen wir uns beeilen. Ich werde sogar, so leid es mir tut, meine Erklärungen abkürzen müssen. Ein Nichteingeweihter merkt keinen Unterschied. Ich hoffe, Sie schreiben in Ihrer Story über unsere wichtige Sache.

DENIS

Nun weiß ich schon alles.

OFFIZIER

Bis auf das Wichtigste.

Ich will einige Worte im Vertrauen mit Ihnen sprechen.

DENIS

Gewiss.

OFFIZIER

Dieses Verfahren und diese Technologie, die Sie jetzt zu bewundern Gelegenheit haben, hat gegenwärtig außer der Kolonie keinen offenen Anhänger mehr. Ich bin ihr einziger Vertreter, gleichzeitig der einzige Vertreter des Erbes des alten Kommandanten. An einen weiteren Ausbau des Verfahrens kann ich nicht mehr denken, ich verbrauche alle meine Kräfte, um zu erhalten, was vorhanden ist. Als der alte Kommandant lebte, war die Kolonie von seinen Anhängern voll, die Überzeugungskraft des alten Kommandanten habe ich zum Teil, aber seine Macht fehlt mir ganz; infolgedessen haben sich die Anhänger verkrochen, es gibt noch viele, aber keiner gesteht es ein.

Wenn Sie heute, also jetzt, ins Teehaus gehen und herumhorchen, werden Sie vielleicht nur zweideutige Äußerungen hören. Das sind lauter Anhänger, aber unter dem gegenwärtigen Kommandanten und bei seinen gegenwärtigen Anschauungen für mich ganz unbrauchbar. Und nun frage ich Sie: Soll wegen dieses Kommandanten und seiner Frauen, die ihn beeinflussen, ein solches Lebenswerk zugrunde gehen? Darf man das zulassen? Selbst wenn man nur als Fremder ein paar Tage auf unserer Insel ist?

Es ist aber keine Zeit zu verlieren, man bereitet schon etwas gegen mich vor; es finden schon Beratungen in der Kommandantur statt, zu denen ich nicht zugezogen werde; sogar Ihr heutiger Besuch scheint mir für die ganze Lage bezeichnend; man ist feig und schickt Sie, einen Fremden, vor.

DENIS schweigt.

OFFIZIER

Ich habe Sie am Hafen beobachtet, ich war in der Nähe, als der Kommandant Ihren Chefredakteur angerufen hat. Ich hörte die Einladung. Ich kenne den Kommandanten.

Ich verstand sofort, was er mit der Einladung bezweckte. Trotzdem seine Macht groß genug wäre, um gegen mich einzuschreiten, wagt er es noch nicht, wohl aber will er mich Ihrem, dem Urteil eines angesehenen Fremden, aussetzen. Seine Berechnung ist sorgfältig; Sie sind seit vier Stunden auf der Insel, Sie kannten den alten Kommandanten und seinen Gedankenkreis nicht, Sie sind in demokratischen Anschauungen befangen, vielleicht sind Sie ein grundsätzlicher Gegner der Immunisierung im Allgemeinen, wäre es nun, alles dieses zusammengenommen (so denkt der Kommandant), nicht sehr leicht möglich, dass Sie mein Verfahren nicht für richtig halten?

Und wenn Sie es nicht für richtig halten, werden Sie dies (ich rede noch immer im Sinne des Kommandanten) nicht verschweigen, denn Sie vertrauen doch gewiss Ihren vielerprobten Überzeugungen.

Sie haben allerdings viele Eigentümlichkeiten vieler Völker gesehen und achten gelernt, Sie werden sich daher wahrscheinlich nicht mit ganzer Kraft gegen das Verfahren aussprechen.

Aber dessen bedarf der Kommandant gar nicht. Ein flüchtiges, ein bloß unvorsichtiges Wort genügt.

DENIS versucht sein Lächeln zu unterdrücken.

Sie überschätzen meinen Einfluss; der Kommandant hat mein Empfehlungsschreiben gelesen, er weiß, dass ich kein Kenner auf diesem Forschungsgebiet bin. Wenn ich eine Meinung aussprechen würde, so wäre es die Meinung eines Privatmannes, um nichts bedeutender als die Meinung eines beliebigen anderen, und jedenfalls viel bedeutungsloser als die Meinung des Kommandanten, der in dieser Forschungskolonie, wie ich zu wissen glaube, sehr ausgedehnte Rechte hat.

Ist seine Meinung über dieses Verfahren eine so bestimmte Sache, wie Sie glauben, dann, fürchte ich, ist allerdings das Ende dieses Verfahrens gekommen, ohne dass es meiner bescheidenen Mithilfe bedürfte. Wie könnte ich denn das bewirken, das ist ganz unmöglich. Ich kann Ihnen ebenso wenig nützen, als ich Ihnen schaden kann.

OFFIZIER

Sie können es, Sie können es!

Ich habe einen Plan, der gelingen muss. Sie glauben, Ihr Einfluss genüge nicht. Ich weiß, dass er genügt. Aber zugestanden, dass Sie recht haben, ist es dann nicht notwendig, zur Erhaltung dieses Verfahrens alles, selbst das möglicherweise Unzureichende zu versuchen? Hören Sie also meinen Plan. Zu seiner Ausführung ist es vor allem nötig, dass Sie sich heute in der Kolonie mit Ihrem Urteil über das Verfahren möglichst zurückhalten. Wenn man Sie nicht geradezu fragt, dürfen Sie sich keinesfalls äußern; Ihre Äußerungen aber müssen kurz und unbestimmt sein; man soll merken, dass es Ihnen schwer wird, darüber zu sprechen, dass Sie verbittert sind, dass Sie, falls Sie offen reden sollten, geradezu in Verwünschungen ausbrechen müssten.

Ich verlange nicht, dass Sie lügen sollen; keineswegs; Sie sollen nur kurz antworten, etwa:

›Ja, ich habe die Prozedere gesehen‹, oder

›Ja, ich habe alle Erklärungen gehört‹.

Nur das, nichts weiter. Für die Verbitterung, die man Ihnen anmerken soll, ist ja genügend Anlass, wenn auch nicht im Sinne des Kommandanten. Er natürlich wird es vollständig missverstehen und in seinem Sinne deuten. Darauf gründet sich mein Plan. Ich habe Sie am Hafen beobachtet. Das ist mein Job. Der Fischer hat mir alles gestanden. Sie können und sollen mit ihm die Insel verlassen und Ihre Story schreiben. Sie werden nicht mehr beobachtet. Ich werde heute Abend keine Meldung von heutigen Verläufen erstatten. Ganz kurz, nur diese Meldung. Eine solche Meldung ist zwar dort nicht üblich, aber ich tue es doch gerne.

Das ist mein Plan; wollen Sie mir zu seiner Ausführung helfen? Aber natürlich wollen Sie, mehr als das, Sie müssen.

DENIS

Wollen Sie eine Erklärung?

OFFIZIER nickt zustimmend.

DENIS

Ich bin ein Gegner dieses Verfahrens. Noch ehe Sie mich ins Vertrauen zogen – dieses Vertrauen werde ich natürlich unter keinen Umständen missbrauchen –, habe ich schon überlegt, ob ich berechtigt wäre, gegen dieses Verfahren einzuschreiten, und ob mein Einschreiten auch nur eine kleine Aussicht auf Erfolg haben könnte.

An wen ich mich dabei zuerst wenden müsste, war mir klar: an meinen Redakteur natürlich. Sie haben es mir noch klarer gemacht, ohne aber etwa meinen Entschluss erst befestigt zu haben, im Gegenteil:

Ihre ehrliche Überzeugung geht mir nahe, wenn sie mich auch nicht beirren kann. Mein Redakteur hat mich belogen.

OFFIZIER bleibt stumm.

DENIS

Sie wissen schon, was ich tun will. Ich werde meine Ansicht über das Verfahren der ganzen Welt zwar sagen, aber nicht in einer Sitzung und nicht meinem Redakteur unter vier Augen; ich werde auch nicht so lange hierbleiben, dass ich irgendeiner Sitzung beigezogen werden könnte; ich gehe heute Abend weg oder schiffe mich wenigstens ein.

OFFIZIER

Das Verfahren hat Sie also nicht überzeugt. Dann ist es also Zeit.

DENIS

Wozu ist es Zeit?

OFFIZIER

Du bist frei. Nun, frei bist du. Ich habe eine Bitte an dich. Wenn ich durch diese Tür gehe und sie schließe, drücke hier den roten Knopf, dem Prozess vertraue ich. Ich werde hierbleiben.

 

SZENE: "IM ATLANTISCHEN OZEAN - 04:00"

Eine kühle Nacht, der Ozean ist still.

FISCHER

Ich habe gedacht, du kommst nicht.

DENIS

Ich habe gedacht, du wartest nicht auf mich.

Beide lachen.

FISCHER

Es war knapp. Schreibst du deine Story?

DENIS

Nein. Weiß nicht. Ich will alles vergessen. Aber ich will das selbst entscheiden. Wie konnte der Chef mir das verschweigen, dass man auf die Insel nur einmal fährt und nie wieder zurückkommt. Ich fühle mich machtlos und betrogen. Wie konnte die Redaktion entscheiden, was ich mit meiner Zukunft mache? Ich will weder Maske tragen, noch keine Impfung bekommen. Ich will leben, als wäre nie etwas passiert. Ich wäre auf der Insel geblieben, vielleicht, ja, wenn ich das aber für mich selbst entscheiden könnte.

Die Sonne geht auf.

 

SZENE: "WOHNZIMMER - TAG"

Denis und seine Freundin schauen fern. Nachrichten laufen.

NACHRICHTENSPRECHER im Fernseher:

Die Regierung untersucht den Fall auf der Paradiesinsel. Nach den ersten Ergebnissen sind die früheren News als falsch bestätigt. Weitere Nachrichten des Tages werden in einer Stunde folgen. Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Tag!

 

DENIS schaltet den Fernseher aus.

 

 

ENDE.

 

Duaa-e Mahmood