Seyma Güney, 16 Jahre
Gruppe Lyrik 14 bis 21 Jahre
Die Fremde in mir (oder: Das vertraute Fremde)
Manchmal schwanke ich. Hin und her. Hin und her.
Ich schwanke zwischen nackter Haut, bemalten Kussmündern, unerreichbaren Liebschaften und grenzenlosem Gelächter zu gemütlichen langen Gewändern, zu weicher, sauberer Haut und zu stillen Abendrunden. Ich schwanke und bin doch immerzu einem Teil fremd. Ich schwanke zwischen langen Telefongesprächen über Jungs, im Wissen, nie mit ihnen zusammenkommen zu können und zwischen endlosen Shoppingtagen zwischen Kleidern, die immer zu kurz und die immer zu lang sind. Ich schwanke zwischen übertanzten Abenden mit Jungs, die ich verstohlen aus dem Augenwinkel beobachte und den Abenden voll Junkfood, die noch hungrig nach Liebe und Aufmerksamkeit sind.
Manchmal schwanke ich. Hin und her. Hin und her.
Zwischen den Dingen, die mir nur allzu vertraut sind und doch immer teils fremd bleiben werden. Meine große Freiheit auf der einen und meine winzige Freiheit auf der anderen Seite. Es ist wie auf einem Seil zu balancieren, manchmal ist das Gleichgewicht perfekt, nichts kann mich aus der Bahn werfen. Und manchmal drohe ich umzukippen. Zu oft abends draußen gewesen, zu eng angezogen, zu viel Aufmerksamkeit von diesem einen Jungen. Zu oft sich nicht getraut, abends wegzuschleichen, zu viel an heißen Sommertagen angezogen, zu lange nicht von einem Jungen geschwärmt.
Beide Seiten sich gegenüber fremd. Die eine Seite der Eltern und der Herkunfts-Kultur. Die andere Seite der Freunde und der hineingeborenen Kultur. Und ich mittendrin. Beide unwissend, was ihr Handeln für Folgen hat. Nicht meine Bauchschmerzen verstehend, wenn ich mich abends davonstehle, nicht meine Vorsicht gegenüber Rauschmitteln, nicht meine Sorge darüber, ob genau dieses Shirt zu kurz ist. Nicht meine Wut darüber, dass ich hingehen möchte, wohin ich will, ohne davor Bescheid geben und alle Freunde vorzustellen zu müssen.
Manchmal schwanke ich. Hin und her. Hin und her.
Und doch bin ich nicht die einzig Fremde. Beide Seiten sind einander genauso fremd.
Sich stillschweigend akzeptieren reicht nicht, man muss sich vereinen. Sich näher kennenlernen. Die guten Aspekte aufnehmen und die schlechten wie abgestorbene Haut von sich abwerfen. Auf dass kein Kind der nächsten Generationen sich selbst als Fremde begegnen muss.
Seyma Güney,
Schreibwerkstatt mit Safiye Can