Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2017

Lavin Esmahil

Lavin Esmahil
Lavin Esmahil

Lavin Esmahil, 12 Jahre  
Gruppe Kurzgeschichte 10 bis 21 Jahre


Fremd - ein vielfältiges Wort

Es ist dasselbe Bild, das sie jede Nacht verfolgt. Ihr 6-jähriger Sohn Hamza am Boden und in Tausende von Fetzen gesprengt.
Wieder einmal wacht Lemya schweißgebadet mit pochendem Herzen auf. Es dauert einige Minuten bis sie sich wieder beruhigt, gleichmäßig atmet und sich in das kalte Badezimmer schleicht. Fröstelnd versucht sie, sich die Angst mit dem Duschstrahl wegzuwaschen und sich für den anstehenden Tag wachzurütteln. Lemya sieht ihren von Narben übersäten Körper. Die Meisten kann man ihr nicht ansehen, denn sie sitzen tief in ihrem Herzen. Mit einem Seufzer steigt sie aus der Dusche und blickt in den kleinen Badezimmerspiegel. Vor ihr steht eine zerbrechliche Frau mit schwarzem Haar, dunkelgrünen Augen und kleinen Falten, die nicht vom Lachen stammen. Für ihre 30 Jahre sieht sie aufgrund ihrer Vergangenheit älter aus. Lemya hatte einmal das, was viele Frauen beneideten, die junge Syrerin hatte eine natürliche Schönheit. Leicht gereizt kramt sie eine Jeans und einen dünnen Rollkragenpullover mit ihrer bereits durchlöcherten Winterjacke aus dem Kleiderschrank, um das Gefühl von Kälte zu überwinden. Mit einem kleinen Butterbrot in der Hand und einer Umhängetasche rennt sie zu ihrem Bus, der immer näher zu kommen scheint. Schnaufend setzt sie sich hin und wartet bis sie an dem St. Marien Krankenhaus ankommt.

Am Krankenhausempfang sitzt Kristin, ihre Mentorin, die sie am ersten Tag durch die langen Flure begleitet hatte, und mit der sie sich zunächst nur auf Englisch verständigte. Heute spricht sie mittelmäßig Deutsch, aber daran arbeitet sie jede Woche im Deutschkurs. Als Flüchtling in Dresden war es nicht leicht, aber lieber lebte sie in Deutschland, als in ständiger Angst, von Sprengstoff erwischt zu werden.

Sein Wecker klingelt und er öffnet die hellblauen Augen. Nach einer warmen ausgiebigen Dusche und einer Tasse Kaffee fühlt sich Tobias wach und zieht aus dem großen Mahagonischrank einen Anzug raus. Die Haare gelt er nach hinten. In 30 Minuten hat er ein wichtiges Geschäfts-Meeting, indem er wieder einmal seine Firma retten muss. Tobias zieht seine schwarzen Lederschuhe an und läuft genervt die Treppen nach unten zu seinem Auto. In seinem Vorgarten liegen zerstreute Sonnenblumenkernhülsen, "jetzt verdrecken die Scheiß-Ausländer auch noch seinen Garten". Er stampft wütend und öffnet seinen mattschwarzen Range Rover und fährt mit 80 km/h davon. Angekommen lächelt sein Mitarbeiter Jan ihm zu und sagt: "Heute ist es soweit, sind Sie bereit für den großen Tag?" Seine Antwort ist nur ein einfaches Nicken, mehr verdiente der lästige Typ nicht. Mit seinen 30 Jahren wurde ihm bereits einiges geboten. In letzter Zeit aber lief es nicht sehr gut mit seiner Firma. Das Geld ging ihm langsam aus, na kein Wunder, wenn er so viele Steuern zahlen muss, die dann wieder in irgendwelche Flüchtlingslager einfließen. Seiner Meinung nach war das reine Geldverschwendung. Sollen die doch zurück in ihre Heimat.

10:30 St Marien Krankenhaus Dresden

Für ihr erstes Ausbildungsjahr arbeitete sie sauber und gut, da sie in Syrien schon viel Erfahrung im Bereich Medizin hatte. Ihre Aufgabe heute war Blut abnehmen, etwas was sie nicht gerne sah, denn die Bilder der Flucht tauchten vor ihrem Auge auf. Kinder, Frauen Männer mit fehlenden Körperteilen, das Stöhnen, der Schmerz und heftige Rufe nach Hilfe. Kristin hatte Recht, vielleicht sollte sie doch einen Therapeuten aufsuchen. Sie rüttelte sich in die Realität und setzte sich wieder aufrecht hin. Kristin zeigte es ihr und bat sie dies nach zu machen. Zuerst fiel es Lemya sehr schwer, doch nun nach mehreren Versuchen gelang es ihr fehlerfrei, sodass Kristin sie sogar lobte. Stolz lächelte sie und stellte sich vor, was ihr Vater dazu gesagt hätte, wenn er sie so mit weißem Kittel und mit der Spritze sähe. Hätte - ihr Leben war viel schwerer geworden nachdem ihr Vater grausam im Bürgerkrieg gefallen war. Von nun an musste sie selbst für Brot und Wasser sorgen. Ein schweres Schicksal. Als hätte Kristin ihre Gedanken gelesen, strich sie ihr sanft über die Schulter und fragte besorgt: "Lemya? Alles okay? Du bist heute so abgelenkt." Sie versuchte sich an einem Lächeln. Unecht aber glaubwürdig. "Ja, alles okay" antwortete sie überzeugt.

19:30 Karl May Bar

Die Stimmung war gut. Das Meeting war gut gelaufen und die Firma hatte eine vorerst gute Lösung für das Problem gefunden. Für Tobias war das jedenfalls Grund zu feiern. Munter bestellte er mit seinen Mitarbeitern ein Bier nachdem anderem. Ihm wurde übel und allmählich hatte er die komplette Kontrolle verloren. Er war schrecklich erschöpft und müde. Tobias wollte einfach nur nach Hause und sich entspannen. Seinen Rausch schön ausschlafen. Bevor er sich noch komplett übergab und sich noch lächerlicher vor seinen Mitarbeitern machte, schnappte er sich seinen Autoschlüssel und torkelte sturzbesoffen zu seinem Auto. Er wusste, dass er nicht betrunken fahren sollte, doch der Alkohol hatte seinen Verstand förmlich weggesogen. Das Einzige, was er auf der Schnellstrasse noch mitkriegt, ist ein lautes Hupen, ein Schrei, bis ihm schwarz vor Augen wurde.

Lemya wälzte sich in ihrem Einzellbett mit dem knarrenden Metallgestell. Sie fing an über alles nachzudenken. Es war diese eine Frage. Was wäre wenn ...? Was wäre wenn sie noch in Syrien mit ihrem Ehemann Rashid wäre? Könnte sie die blauen Flecken denn geheim halten? Oder wäre sie bereits tot, wenn sie auf die Strasse ging, durch eine Bombe? Ihr Kopf dröhnte. Langsam wurde ihr alles zuviel und ihre Augen fingen an zu tränen. Mit Tränen in den Augen schlief sie ein.

Dr. Franklin betrat den Raum, seine einst freundliche, positive Miene hatte sich gewandelt. Seiner Miene nach zu urteilen war es bitter ernst. Dr. Franklin sprach leise, dennoch blieb er professionell: "Wir haben schlechte Nachrichten für Sie." Er legte eine kurze Pause ein. "Es tut mir leid, es Ihnen sagen zu müssen". Er schnappte ein weiteres Mal nach Luft "Es ist nämlich so: durch den schweren Unfall sind Sie nicht mehr fähig zu laufen oder sonstige Aktivitäten mit ihren Beinen durchzuführen. "Ein Adler war es, ein Adler dem die Flügel im Höhenflug rausgerissen wurden Ein Höhenflug der sich in einen Sturzflug umwandelte. Und er schrie, schrie verdammt noch mal. Er fühlte sich fremd in seinen eigenen Körper, alles fing an sich zu drehen.

Kristin wies ihr ein Zimmer zu, in dem sie einem jungen Mann Blut abnehmen solle, welcher gestern eingetroffen war. Sie meinte, dass der Mann einen schweren Autounfall hatte. Sie betrat den Raum mit einem mulmigen Gewissen, wie immer hatte sie keinen blassen Schimmer was sie erwarten würde. Es war nicht der erste Patient den sie behandelte aber jeder Patient war anders. Lemya musterte den Mann, der da mit zerkratztem Gesicht im Krankenbett lag. Er hatte kleine, blonde Stoppeln am Kinn, blaue Augen und einen gut gebauten Körper. Er sah sie verächtlich an und fragte mit einer tiefen Stimme: "Gibt es hier auch kompetentes Personal?! Oder muss mich irgendeine Fatma behandeln?" Das traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Solche Kommentare hörte sie immer wieder, aber sie hatte dies nicht von ihm erwartet. Er schien recht gebildet und ansehnlich. Sie raffte sich schnell auf und antwortete schlagfertig: "Erstens: mein Name ist nicht Fatma und zweitens bin ich in diesem Gebiet informiert. Wir können sie auch jederzeit in das Anna Kreuzberger Krankenhaus verlegen, wenn Ihnen das lieber ist." Er grummelte ein genervtes: "Dann machen Sie doch endlich" und sie fing an ihm das Blut abzunehmen.

Tobias sah zu, wie sie ihre Arbeit machte. Eigentlich hätte er puren Hass gegenüber ihrer Rasse empfinden sollen, doch aus irgendeinem Grund, den er sich nicht erklären konnte, blieb er aus. Er schaute zu, wie sie die Utensilien wegräumte, irgendwie fing er an sie interessant zu finden. Die Frau muss viel durchgemacht haben, er hätte zu gerne gewusst, was ihr zu schaffen machte. Schnell dachte er an seinen drogenabhängigen Bruder, der damals vor sechs Jahren von einen dieser Drecksleute abgestochen wurde. Seine Wut übernahm wieder die Oberhand und er musste sich zusammenreißen, die Frau nicht anzubrüllen. "Ist bei Ihnen alles in Ordnung? Soll ich Ihnen etwas bringen?" Er traute sich nicht in ihren Augen zu schauen, stattdessen schaute er zur Seite. So sind sie die Ausländer, in einem Moment nett tun und im nächsten stechen die dich ab, wenn du was Falsches sagst. Er mochte diese Leute nicht. So einfach war das... Fremde.. Ausländer. Flüchtlinge.. er bekam einen reinen Würgeanfall wenn er darüber nachdachte. Er konnte es kaum erwarten, das Krankenhaus verlassen zu können. Zunächst musste er erst mal gesund werden. Nach seinem Unfall hatte Tobias sich die Wirbelsäule gebrochen. Er hatte diesmal Glück gehabt, mit viel Krankengymnastik hatte er gute Chancen, wieder normal laufen zu können. Er beschloss erstmal etwas zu schlafen, damit er diese Fatma und ihr Gesicht vergessen konnte. Seine Gedanken drehten sich immer wieder um die Frau. Er konnte an nichts anderes denken.

Nach dem Verlassen des Zimmers, beäugte sie minutenlang die Zimmertür. Etwas stieg in ihr auf. Es war pure Neugier oder war es was anderes. Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie mehr über den Mann wissen wollte. Sie wollte wissen, was ihn ausmachte, was ihn beschäftigte. Jedes kleinste Detail.
Sie schüttelte den Kopf, sie kam sich sowas von erbärmlich vor. Er war gemein zu ihr und was tat sie? Sie fing an, Gefallen an ihm zu finden. Außerdem musste sie als Krankenschwester professionell bleiben. Sie überlegte noch einmal zu ihm ins Zimmer zu gehen, aber was hätte sie ihm sagen sollen?


Lavin Esmahil,
Schreibwerkstatt mit Safiye Can