Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2017

Nina Geib

Nina Geib, 16 Jahre
Gruppe Kurzgeschichte 10 bis 21 Jahre


Die Frage des Seins

Ich bewundere dieses junge Mädchen. Sie schien so versunken in ihrer eigenen Welt zu leben. Beinahe jeden Tag sahen wir uns. Ich konnte keinen genauen Ort sagen, an dem wir uns begegneten, sie war einfach nicht die Art Mensch, die immer dieselbe Runde laufen konnte. Sie war eine Entdeckerin und eine Träumerin. Wenn sie unterwegs war, lief sie, dachte nach und beobachtete die Umgebung, solange bis sie eine Idee hatte. Sobald ihr etwas einfiel, konnte sie alles um sich herum vergessen. Sie schlug ihr kleines schwarzes Notizheft auf und nahm die Kappe von ihrem Füller. Danach versank sie
in ihrer eigenen Welt. Sie fing an zu schreiben.
Wenn ich ihr begegnete und sie sich mit ihren Gedanken noch im Hier und Jetzt befand, dann lächelte sie mich mit ihrem freundlichen Gesicht an und grüßte mich.

Im Winter waren deutlich weniger Leute im Wald, um spazieren zu gehen. Die meisten von ihnen waren Hundebesitzer, die sowieso bei Wind und Wetter mit ihrem Vierbeiner raus mussten, manchmal traf man auch Familien, mit ihren kleinen Kindern, wobei das zu meiner Kindheit noch deutlich mehr waren, damals war allein der Schnee schon Grund genug für jeden von uns, sofort nach draußen zu gehen und im Schnee zu spielen. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie oft mein Vater mit mir und meinem Bruder draußen war und wir lange Gespräche führten, um uns nahe zu stehen und keine Geheimnisse voreinander zu haben. Zu lange war das jetzt schon her.

Auch Rentner wie mich traf man relativ häufig, weil diese viel Zeit hatten und noch gerne an die frische Luft gingen. Warum mir gerade der Wald so gut gefiel, konnte ich einfach nicht sagen, er hatte etwas Magisches, Anziehendes an sich, das alle Leute, die sich dort begegneten, scheinbar versuchte miteinander zu verbinden und zusammenzuführen.

Wenn man ein wenig Glück hatte, lief einem ein Träumer über den Weg. Dass man ihnen so selten begegnete, lag allerdings nicht daran, dass sie so selten im Wald waren, ganz im Gegenteil, sie waren eigentlich jeden Tag da, nur sind Träumer Leute, die gerne für sich sind und deshalb die großen Wege meiden. Dieses Mädchen war eben eine solche Person.

Ja selbst im Winter lief sie durch den kleinen Wald. Wegen der Kälte trug sie immer einen schwarzen Mantel, mit sehr auffälligen roten Knöpfen, dazu passend einen roten Schal und eine Mütze, vermutlich beides selbst gestrickt, sie sah so aus als ob sie solche Dinge konnte, sie sah so aus als ob sie genau wusste was sie konnte und wer sie eigentlich war.

Ich hätte gerne gewusst, wie ihre Welt aussah. Zu gerne hätte ich nur eine ihrer Geschichten gesehen, ich wollte wissen wovon sie träumte. Wie viele Geschichten sie wohl schon geschrieben hatte?
Selbst wenn ich sie am Samstagmorgen auf dem Marktplatz getroffen hatte, hatte sie immer ihr kleines schwarzes Notizbuch dabei. Wahrscheinlich würde sie niemals das Haus verlassen, ohne ihr Notizbuch mitzunehmen, sonst könnte sie ja eine neue Idee haben und hätte keine Möglichkeit, sie aufzuschreiben.

An einem Tag sah ich sie mit angewinkelten Beinen unter der großen Eiche sitzen. Ihr zartes Gesicht war an diesem Tag sehr aufgequollen, sie hatte wohl lange geweint und sich dabei die Augen gerieben.
Ich hätte sie gerne getröstet und gefragt, was denn los ist, aber wollte sie auch nicht erschrecken. Dann sah sie mich, griff schnell nach ihrem Notizbuch, das neben ihr lag, sprang auf und lief davon.
Sie wollte wohl einfach alleine sein, das akzeptierte ich natürlich.

Ich hatte mir in meinem Leben nun schon viele Leute angeschaut und konnte einiges über sie sagen. Mein Vater hatte mir immer gezeigt, wie viel uns die Menschen schon ohne Worte von sich aus uns mitteilten.
Im Kindergartenalter lieben es die Kinder, in den Wald zu gehen, weil sie dort ihre Fantasie ausleben können, an einem Tag sind sie auf einem Piratenschiff und sind dabei, die Weltmeere zu erobern, am nächsten müssen sie ihre Ritterburg beschützen oder sie sind Indianer und müssen sich Tipis bauen.
Doch irgendwann werden die Kinder älter und haben keine Lust und Zeit mehr rauszugehen, sie vergessen weshalb sie so gerne dorthin gegangen sind und wer sie eigentlich wirklich sind, und erst sobald sie wieder alt werden, da fällt es ihnen wieder ein. Vielleicht ist das der Grund weshalb die alten Leute, wie ich, wieder zurückgehen, um sich zu erinnern und neue Fantasien und Ideen zum Leben zu erwecken.
Aber sie, dieses Mädchen, war anders. Ich bewunderte sie dafür, dass sie nie aufgehört hatte, in den Wald zu gehen, dass sie ihre Ideen im Wald, in Form ihrer Geschichten immer noch zur Realität machte.
Manchmal wünschte ich mir ich hätte mein Leben besser genutzt, so wie sie es mit ihrem tat. So oft dachte ich über die Dinge, die mir widerfahren waren, nach, wie ich sie verdrängt hatte und sie mit der Zeit alle wieder in mir hochkamen.

Es war einfach nur ein weiterer Montag, an dem ich im Wald lief und ihr begegnete.
Sie saß auf der Brücke, die über den kleinen Bach führte, und ließ ihre Beine herunterbaumeln. In ihren Händen wieder das schwarze Notizheft. Über ihre Wange flossen dicke Tränen und sie schrieb mit einem solchen Elan, das es von außen so wirkte, dass sie ihre gesamten Gefühle in diese Geschichte steckte, sich von ihnen frei schrieb und ihren Kopf dabei vollkommen entleeren konnte.
Ich blieb eine Weile so da stehen und beobachtete sie, ohne dass sie es merkte. Immer wieder wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
Ich fragte mich, was dem armen Mädchen wohl durch den Kopf gehen musste.
Sie tat mir wirklich leid, wie sie da saß, ganz alleine.
Jedoch wurde mir, als ich sie weiter betrachtete etwas klar, vielleicht wusste sie gar nicht so genau, wer sie war, und war immer noch auf der Suche nach dem Sein, aber sie hatte die Antwort darauf direkt vor sich, es aber einfach nicht klar erkennen können und es nicht begriffen.

Ich sah sie immer häufiger. Mit der Zeit kannte ich ihre Lieblingsplätze zum Schreiben und wusste, wo ich ihr begegnete.
Jedoch blieb ich nie lange, ansonsten hätte sie mich vermutlich bemerkt und würde Angst bekommen und nicht mehr in den Wald zurückkehren. So betrachtete ich sie nur kurz und lief, bevor sie mich bemerken konnte, zügig weiter.

Im Gegensatz zu ihr war ich ein Gewohnheitsmensch. Ich hatte eine genaue Runde, die ich jeden Tag lief.
Es war an einem Samstag im Oktober, ein wunderschöner Tag, das Licht strahlte durch die Blätter, die sich bereits in den verschiedensten Braun- und Rottönen verfärbt hatten.
An eben diesem schönen Samstag, lief ich wieder einmal meine Runde durch den Wald, an diesem Tag jedoch begegnete ich ihr nicht.
Es war sehr seltsam, sie an diesem Tag nicht zu sehen, einfach weil es für mich bereits zur Gewohnheit geworden war.

Ich lief weiter, zu der Brücke, die über den kleinen Bach führte. Ich blieb erstaunt stehen. Auf der Brücke lag das kleine schwarze Notizheft. Ich machte ein paar Schritte auf das Heft zu, hielt dann jedoch inne und sah mich um, von dem Mädchen war nichts zu sehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie es hier vergessen würde. Nicht dieses Notizheft.
Vorsichtig nahm ich es in die Hand und strich darüber. Es fühlte sich gut an. Trotz der Kälte um mich herum war es warm.
Eigentlich wusste ich nicht wirklich, was ich tun sollte, jedoch siegte meine Neugier und langsam schlug ich die erste Seite auf.

Darin lag ein Brief. Er war an "Martin Heidegger" adressiert. Ich war verwirrt, warum schrieb sie an ihn?
Ich blätterte weiter, ließ den Brief verschlossen, und schaute auf die erste Seite. Als ich mir die ersten Seiten durchgelesen hatte, verstand ich mehr, was ihr durch den Kopf zu gehen schien.
Sie schrieb weniger Geschichten, sondern viel eher Briefe. Je mehr ich davon gelesen hatte, desto mehr dachte ich, würde verstehen worum es ging.

"Ich denke, dass Sie sich ähnliche Fragen im Leben stellen. Die Frage des Seins in unserer Zeit."
Ich drehte mich um. Hinter mir stand sie, das junge Mädchen, mit ihrem schwarzen Mantel und den roten Knöpfen. Sie redete und schrieb also wirklich über ihn, meinen Vater.
Sie hatte mich bei ihren Spaziergängen jedes Mal wahrgenommen und genau gewusst, wer ich bin.
Und die Fragen mit denen sie sich beschäftigte, waren Inspirationen von ihm, er lebte weiter, auch wenn er für die meisten Leute schon längst in Vergessenheit geraten war, dieses Mädchen kannte und bewunderte unsere Familie, und das erste Mal seit langem konnte ich stolz sagen, wer ich bin, ohne überhaupt zu erklären, wer ich war. Für mich hatte sich die Frage des Seins, die er, mein Vater, sich so oft gestellt hatte, damit beantwortet und ich denke, er wäre mit meiner Antwort darauf sehr zufrieden gewesen.