Franziska Waldek, (12 Jahre)
Gruppe bis 14 Jahre:
Kategorie Kurzgeschichte
Angel can fly
Ich stehe an der Brücke. Unter mir der reißende Fluss. Das dunkle Wasser funkelt in den letzten Strahlen der Sonne zu mir herauf. Meine langen, blonden Haare flattern im Wind. Mich fröstelt. Meine Klamotten kleben an meinem Körper. Ich sehe runter und erinnere mich. Vor zwei Jahren war ich auch schon so weit, dass ich sagte, ich will nicht mehr. Mein Vater hatte mich im Stich gelassen, direkt nach meiner Geburt, und meine Mutter war Alkoholikerin. Also war ich gezwungen, mit Malek, meinem jüngeren Bruder, mich selbst zu versorgen. So tanzten wir auf der Straße. An dem Tag war Malek vor ein Auto gelaufen. Er war sofort tot. Schließlich stand ich vor zwei Jahren auch an dieser Stelle. Doch da tauchte plötzlich Julien auf. Julien, der Straßenkünstler, der 'King of Street'. Er hatte keine Probleme, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn er sang, standen die Autos still, um ihn nicht zu stören. Und wenn er tanzte, blieben die Leute stehen oder tanzten mit. Er blieb neben mir stehen und fragte: "Angel, was machst du denn da?" Mit verweinten Augen sah ich ihn an: "Malek ist tot." "Ich weiß, Angel", sagte er nur. Eine Weile war nichts zu hören, nur das Tosen des Flusses und mein Schluchzen. "Warum Angel?", fragte ich leise. Er schwieg. "Es passt zu dir", sagte er dann. Wieder war es einen Augenblick ruhig. "Ich springe", murmelte ich dann. Er sah mich an und sagte: "Das ist kein Grund, Angel. Das Leben ist lebenswert." Er schwieg kurz. "Ich weiß, wie du dich fühlst. Weißt du, Sarah, meine kleine Schwester starb auch. Auch an einem Autounfall. Seitdem bin ich Breaker, da das Tanzen mir Halt gibt. Ich stand auch kurz davor, Tabletten zu schlucken. Doch ein guter Freund hielt mich ab. Er reichte mir die Hand und führte mich aus dem dunklen Raum in ein neues, helles Licht. Er brachte mir das Tanzen und Singen bei. Doch leider trat dieser Mensch aus meinem Leben. Angel, aber ich habe eins von ihm gelernt." Er machte eine Pause. "Er hat mir gezeigt, dass das Leben weitergeht. Und das möchte ich auch für dich tun." Nach seiner Rede hielt ich die Luft an. "Das mit deiner Schwester, Julien, tut mir Leid. Aber ich kann nicht mehr." Da schlang Julien die Arme von hinten um mich und zog mich über das Geländer der Brücke. "Ich will aber nicht, dass du springst." Er hielt mich fest, bis ich aufhörte mich zu wehren. Er griff nach meiner Hand. "Komm, es wird mal Zeit, dass du unter andere Menschen kommst. Vor allem die, die mit deinem Tanzstil zu tun haben." Er führte mich in ein neues Universum. Er lebte mit mir, teilte mit mir seinen Lohn und sein Wissen. Wir hatten eine Menge Spaß zusammen. Doch dann entzündete sich eine langjährige Wunde in seinem Bein. Er musste ins Krankenhaus. Das war vor einer Woche. Heute hat er es nicht mehr geschafft. Jetzt bin ich an dem Punkt, wo ich sage: 'Niemand kann mich mehr aufhalten. Die zwei wichtigsten Menschen aus meinem Leben sind gegangen, und ich konnte mich nicht einmal richtig verabschieden.' Es wird keiner kommen, wie Julien damals. Keiner wird mir Mut machen und Mitgefühl zeigen, wie Julien es getan hat. Keiner wird mir jetzt noch helfen. Ich höre im Hintergrund ein paar Rufe von Passanten. Aber das interessiert mich nicht. 'Angel can fly', denke ich und springe.