Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2009

Annika Hock - Erster Preis in der Gruppe älter als 13 Jahre, Kategorie Kurzgeschichte

Nur Ich
 
Ein lauter Schuss durchtrennt die Stille. Augenblicklich schnelle ich mit aller Kraft, die meine Beine aufbringen können, nach vorne. Feste stoßen sie sich vom Boden ab, bringen mich immer weiter nach vorne. Geschrei tönt durch das Stadion, sie rufen auch meinen Namen. Doch ich nehme sie kaum wahr. Ich versuche, mich einzig und allein auf meine Bewegungen zu konzentrieren. Wenn ich es davor nicht war, bin ich es jetzt: Eins mit meinem Körper. Ich kann nur noch an meine Beine und Arme denken, alle anderen Gedanken fallen aus meinem Kopf.
In meinem Augenwinkel sehe ich meine Gegnerin aufholen. Sie will vorbeiziehen. Ich zwinge mich, mein Tempo zu halten, ich werde jetzt nicht aufgeben. Ich bin kurz davor.
Die letzte Gerade liegt vor mir. Sie ist jetzt fast neben mir. Nein verdammt, das wird sie nicht schaffen! Ich sauge alle Kraft aus mir raus, beschleunige und lege einen Endspurt hin.
Dann bin ich übers Ziel. Ich laufe noch ein paar Meter, dann knicken meine Beine unter mir weg. Ich habe gewonnen.
Meine Mutter sitzt in ihrem Büro und zieht an ihrer Zigarette. Sie hält den beißenden Rauch so lange in ihrer Lunge, bis sie wieder Luft holen muss. Merken, wie ich in ihr Zimmer komme, tut sie nicht. "Hi", sage ich und reiße das Fenster auf. Erleichtert atme ich die frische Luft tief ein.
"Wie war dein Tag?", fragt meine Mutter und beobachtet den Qualm ihrer Zigarette, der sich in der Luft erst zu kleinen Kringeln formt, bevor er verschwindet.
"Gut", antworte ich nur. "Ich habe gewonnen."
Sie zieht erneut an ihrer Zigarette, so tief wie möglich. "Gut", sagt sie dann, schaut nicht einmal auf. Ich ignoriere ihr Verhalten. "Hast du Mimi aus dem Kindergarten abgeholt?", frage ich. Ich bin nicht mal überrascht, als sie antwortet. "Der Kindergarten ist seit einer Viertelstunde um. Ich werde mir wieder einmal das Gemecker der Erzieherin anhören müssen."
Der Qualm scheint interessanter zu sein als ich. Ich drehe mich um und mache mich auf den Weg. Wahrscheinlich merkt sie nicht einmal, wie ich die Tür zuknalle.
"Am Samstag geht's los!", ruft Brenner, mein Trainer, mir über den Platz zu. Verwundert schaue ich ihn an. "Was?", frage ich ihn, ehrlich ratlos. Sein lautes Lachen dröhnt durch das Stadion. "Was wohl?", fragt er und legt mir die Hand auf die Schulter. "Du hast es geschafft. Du gehst zu den Deutschen Meisterschaften!"
Ich stelle den Topf mit den Nudeln, die ich eben gekocht habe, auf den Tisch. Ich gebe eine kleine Schüssel voll an Mimi, auch meiner Mutter gebe ich etwas. Ich warte, bis die beiden anfangen zu essen. "Mum, ich habe die Quali für die Deutschen Meisterschaften", beginne ich. Eine Gabel voller Spagetti wandert in ihren Mund.
"Ich werde am Samstag nach Berlin fahren." Die nächste Gabel verschwindet in ihrem Mund. Ich esse einfach weiter. Jetzt weiß sie Bescheid.
"Was ist mit Mimi?", fragt sie schließlich. Ich schaue sie an, hoffend, dass ihr vielleicht irgendwann einmal die Wut in meinen Augen auffällt.
"Mum, sie ist deine Tochter!"
Diesmal schaut sie mir in die Augen.
"Nein!", ruft sie, und ich spüre wie sich in mir die letzte Hoffnung auflöst und sich schwer um mein Herz schließt. "Es ist seine Tochter!" Sie schreit es fast.
"Mum," sage ich mir ruhiger Stimme. "Dad ist bereits seit drei Jahren tot."
Sie antwortet nicht. Sie schaut mich auch nicht an. Mimi sagt die ganze Zeit kein Wort. Mum schiebt den Teller von sich weg und zieht ihre Zigarettenschachtel aus der Tasche. Dann steht sie auf. Wenigstens geht sie zum Rauchen in ihr Zimmer.
Meine Beine sind frisch rasiert. Ich stehe am Start, bereit. Es kann losgehen. Ich bin soweit. Der Starter gibt das Signal. Ich stehe in meinem Startblock, angespannt und bereit, jederzeit loszulaufen. Ich bin wie ein Tier im Käfig. Dann durchbricht ein Schuss die Luft. Ich stürze los, beflügelt von meiner Wut. Ich kann mich nicht konzentrieren, denke an meine Mutter, an meinen Vater. Den kalten Grabstein auf dem Friedhof. Er hat aus meiner Mutter ein Monster gemacht. Er ist schuld. Meine Schritte rammen in den Boden, es fühlt sich gut an. Wenn ich renne, bin ich frei, ich will nie wieder anhalten, so sehr meine Lunge von den schnellen Atemzügen und der noch kalten Mailuft schmerzt.
Auf einmal übertrete ich die Ziellinie. Geschrei, mein Trainer. Meine Beine lösen sich in nichts auf, ich falle auf den Boden. Völlig kraftlos. Eine Träne läuft über meine Wange.
Ich habe gewonnen.
Scheiße, ich bin die Beste.