Literatur - das ist eben mehr als nur eine Summe von Texten, die zufällig auf dieses oder jenes Material geschrieben oder gedruckt sind. Literatur ist mehr als ein Gedankenkonstrukt. Und auch mehr als ein Mittel zur Unterhaltung oder zur anspruchsvollen intellektuellen Verständigung.
Literatur: das ist - auch - die ganz wundersame Arbeit vieler Einzelner. Eine Arbeit, die manchmal einsam und schmerzvoll ist, manchmal lustvoll, kurios, tragisch, komisch; eine Arbeit, die von vielen Zufällen, Unfällen, Glücksfällen begleitet ist, die sich Missverständnissen oder Einverständnissen, Lob oder Tadel aussetzt; die zwischen Zuversicht und Verzweiflung schwankt; die von Liebe oder von Hass und oft genug auch von Hassliebe geprägt ist.
Aus seltsamen Zufällen, plötzlichen Ideen und winzigen Skizzen können große Werke entstehen - und aus langjährigen Planungen, umfangreichen Zettelkästen und riesigen Ambitionen wird manchmal - gar nichts."
Wer hier so liebevoll das Entstehen und die Wirkung von Literatur beschreibt und dann mit einem "Plumps!" endet, ist unser Bundespräsident Horst Köhler anlässlich einer Rede im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. "Die einzelnen Bundesländer übernehmen immer wieder Verantwortung für das kulturelle Leben der ganzen Nation", hat der Bundespräsident in dieser Rede ebenfalls gesagt, und das gilt selbstverständlich auch für Rheinland-Pfalz.
Neulich freute ich mich, den Roman "Levins Mühle" von Johannes Bobrowski in einer Neuauflage zu entdecken und noch einmal zu lesen. Zu vergilbt und brüchig war mein Exemplar von 1964, und ich erinnere mich, wie erschreckt ich war, als ich damals, wenig später, von Bobrowskis Tod las. Ein merkwürdiges Gefühl, dass ich inzwischen immer wieder durch eine Straße gehe und einen Straßennamen erblicke, dessen Namensgeber ich gekannt habe. In Berlin ist mir dies passiert, als ich durch die Ingeborg-Drewitz-Straße ging. Viele Veranstaltungen hatten wir in den 70er Jahren zusammen organisiert, sind öfter gemeinsam aufgetreten, als ich, junger Autor, im Verband deutscher Schriftsteller aktiv war.
mmmmmm
Und dann, am Potsdamer Platz, wiederum unvermittelt erschreckend, gehe ich durch die Gabriele-Tergit-Straße. Durch eine Empfehlung von Arno Reinfrank hatte ich Gabriele Tergit kennengelernt, als ich während des Villa-Massimo-Aufenthaltes von Arno Reinfrank in den Sommerferien 1978 in dessen Haus in der Pattison Road in London wohnte. Dank Jürgen Serke, der eine Serie über "vergessene Dichter" schrieb, die nach ihren ersten literarischen Erfolgen als junge Autoren vor den Nazis ins Exil fliehen mussten und nie mehr Fuß fassten in Deutschland bzw. in der deutschsprachigen Literatur, wurde die damals schon 84-jährige noch einmal entdeckt, ihre Bücher erschienen; ein Fernsehteam hatte sich bei ihr angemeldet, als ich zum Tee bei ihr war, und sie meinte resigniert, das käme jetzt alles 10 Jahre zu spät. Und dann der Arno-Reinfrank-Weg in Ludwigshafen-Friesenheim.
Tempus fugit, wem sage ich das, aber wer liest noch die Autorinnen und Autoren, die uns in unserer literarischen Bildung prägten - die ja vollkommen außerhalb der Schule stattfand. Heinrich Böll und Stefan Andres, Bertolt Brecht und Günter Grass und erst recht James Joyce, Samuel Beckett, Ezra Pound mussten wir selbst finden. Erinnere ich mich an eine einzige literarische Anregung aus dem Unterricht, jüngst erschienene Bücher zu lesen? Aber selbst heute noch sehe ich mit Schrecken, dass immer noch Gottfried Kellers "Kleider machen Leute" gelesen werden, und kein Deutschlehrer widerspricht, wenn ich behaupte: weil es dazu Interpretationshilfen gibt, Aber ach, lassen wir das.
Arno Reinfrank: ihm verdanke ich viele Diskussionen, viele Empfehlungen, viel Kritisches, einen subjektiven Blick von außen auf die damalige deutsche Gesellschaft. Und die ersten Erfahrungen mit Exilschriftstellern. "Eine sich mit ihrer Bedeutung auch in der Zukunft bewährende Poesie wird m. E. eine solche sein, die positive Vorwärts-Perspektiven entwickelt", hat er 1972 in einem Aufsatz "Zum Wandalismus in der Poesie" gesagt und sich damit abgesetzt von den zahlreichen inzwischen vergessenen Anti-Gedichten dieser "68er" Zeit. "Diesem Wandalismus", heißt es dort, "begegnen wir in der zeitgenössischen Lyrik vielerorts. Hier richtet sich die sinnlose Gewaltanwendung ... gegen das eigene Produkt: die Poesie. Die Zerstörung von deren Formen zehrt die Kräfte zum Aufbau neuer Formen auf, ebenso wie das Negieren sinnvoller Inhalte den Lyrikern die Energien raubt, das ganze gesellschaftliche Leben überhaupt noch als sinnvoll zu erleben. Handelt es sich um einen Kurzschluss oder um eine Fehlleistung? Von der Verantwortung sind die Lyriker nicht gänzlich freizusprechen."
Ungewöhnliche Worte für das Jahr der so tragisch endenden Olympischen Spiele in München, der Watergate-Affäre, der Verhaftung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, des Misstrauensvotums gegen Bundeskanzler Willy Brandt, den Friedensnobelpreisträger von 1971 und der Auszeichnung von Heinrich Böll mit dem Nobelpreis für Literatur. In diesem Jahr 1972 wurde der Friedensnobelpreis übrigens nicht verliehen. Haben wir Arno Reinfrank diese mahnenden Worte damals abgenommen? Ehrlich gesagt: eher nicht.
Paul Celan nannte einmal den Grund dafür, dass er Gedichte schreibe: "um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen."
Mit diesen Worten können wir leben, wir können sie akzeptieren. Sie stören uns nicht. Sie sind nicht unbequem. Aber "positive Vorwärts-Perspektiven" in der Lyrik zu entwickeln als Forderung an die Dichter? Zugegeben: der Satz ist nach wie vor unbequem. Und damit typisch Arno Reinfrank!
Der Arno-Reinfrank-Literaturpreis ist wie ein Straßenschild: er hält die Erinnerung wach. Er ist und bleibt unbequem. Er mahnt uns, positive Vorwärts-Perspektiven zu entwickeln. Auch die Literaturförderung in Rheinland-Pfalz hat dies versucht. Wenn ich auf die Zeit seit 1993 zurückblicke, in der ich dafür mit verantwortlich war, so lässt sich vieles Positive aufführen: Ideen und Initiativen wurden geboren, aufgegriffen, umgesetzt, die Literaturszene in Rheinland-Pfalz und aus Rheinland-Pfalz hat sich in dieser Zeit eher stärker zu Wort gemeldet als zuvor, und wenn wir sie auch manchmal in Berlin suchen müssen: wir finden sie dort! Literaturförderung heißt aber auch: Synergien schaffen. Nur so kann das, was sich eher bescheiden zu entwickeln scheint, recht unbescheiden erfolgreich werden. Das betrifft auch die von mir stets geschätzte Zusammenarbeit mit der Stadt Speyer. Und die Unterstützung privater Initiativen wie der von Jeanette Koch, der wir als Stifterin diesen Preis zu verdanken haben.
Und da ich es gewohnt bin, sicherlich von drei Jahrzehnten der Bekanntschaft und Freundschaft mit Arno Reinfrank mit geprägt, in der Literaturförderung immer auch "positive Vor-wärts-Perspektiven" zu entwickeln, möchte ich die eingangs zitierte Formulierung unseres Bundespräsidenten ein wenig korrigieren. Ich würde sagen: Aus seltsamen Zufällen, plötzlichen Ideen und winzigen Skizzen können große Werke entstehen - und aus langjährigen Planungen, umfangreichen Zettelkästen und riesigen Ambitionen wird manchmal - ebenfalls sehr viel. Der Arno-Reinfrank-Literaturpreis gehört mit seiner Wachstumsrate dazu, da bin ich sicher. Jeanette Koch, vielen Dank, Herr Oberbürgermeister Schineller, Herr Bürgermeister Brohm: vielen Dank, Monika Rinck: herzlichen Glückwunsch!
Ministerialrat Dr. Sigfrid Gauch
Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur Rheinland-Pfalz