Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Kabs, liebe Jeanette Koch, sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Anja Kampmann,
die eigene Zeit in Gedanken zu erfassen, das nannte Hegel einmal das Wesen der Philosophie. Ich finde, dass dies auch das Wesen der Kunst ist, jedenfalls jener, die mehr als nur unterhalten möchte.
Menschen brauchen Kunst. Schauspiel und Tanz, Malerei und Literatur. Filme und Musik. Wir zeichnen heute Abend hier in Speyer eine Autorin aus, die als Lyrikerin begonnen hat. Der Namensgeber des Preises war ein wortgewaltiger Lyriker. Deshalb sage ich: Wir Menschen brauchen auch und gerade Lyrik – in irrationalen Zeiten wie diesen mehr denn je. Warum? Weil uns die Beschäftigung mit Gedichten Mehrdeutigkeit lehrt. Diese wiederum hilft uns, Dinge besser zu verstehen.
William Wordsworth, einer der Begründer der romantischen Dichtung Englands, grenzte um 1800 herum einmal das Gedicht als Sprachkunstwerk gegen die damals aufkommenden Massenmedien ab. Er bezeichnete es als eine Art Gegengift „gegen das entwürdigende Verlangen nach skandalöser Stimulation.“
Ob Anja Kampmann, die für ihre Arbeit zu loben mir gleichermaßen Freude wie Ehre ist, in William Wordsworth einen ihren künstlerischen Urahnen sieht, weiß ich nicht. Gewiss ist jedoch, dass sich in ihren Gedichten keinerlei skandalöse Stimulationen finden, die ebenso rasch, wie sie aufkommen, der Vergänglichkeit anheimfallen.
Um Frau Kampmanns Verständnis von der Rolle des Dichters zu verstehen, zitiere ich die ersten Zeilen aus dem Gedicht sie werden rufen aus dem Band der hund ist immer hungrig aus dem Jahr 2021:
die dichter das sind die torhüter
auf dem kleinsten rasengrün
der regionalliga, das sind diejenigen
die brüllen und winken und wissen
dass ihre mannschaft ermüden wird
Anders, als hier insinuiert wird, kommt Anja Kampmanns literarisches Schaffen gänzlich ohne jede Aufgeregtheit, ohne jedes wilde Gestikulieren und Anfeuern aus. Sie schreibt leise, zurückhaltend, mit Bedacht, wohl aber mit dem Wissen des Regionalliga-Torhüters, der um die schweren Beine seiner Mitspieler in der zweiten Halbzeit weiß.
Anja Kampmann wurde 1983 in Hamburg geboren und begann schon früh, Gedichte und Kurzprosa zu schreiben. Nach dem Abitur 2003 und einem Auslandsaufenthalt in Frankreich nahm sie ein Studium an der Universität Hamburg auf, wechselte aber bald an das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig, wo sie 2009 ihr Diplom-Studium in den Fächern Lyrik und Prosa mit einer Erzählung abschloss.
Schon während ihres Studiums und den Anfängen einer Dissertation über Samuel Beckett veröffentlichte sie Lyrik und Prosa in diversen Literaturzeitschriften. 2016 publizierte der renommierte Hanser Verlag in der Edition Lyrik Kabinett Anja Kampmanns ersten Gedicht-Band Proben von Stein und Licht.
„Mit Anja Kampmann ist eine junge, neue Stimme der Gegenwartslyrik zu entdecken“, pries der Verlag das Buch an, und das war alles andere als austauschbare Marketingsprache. In der Tat unterscheidet sich der Ton der Autorin schon in diesem Erstling deutlich von dem ihrer schreibenden Altersgenossinnen und Altersgenossen.
Von Gänsen, welche die „dauer des himmels“ weissagen, „der über den kiefern/endlos erschien“ ist da die Rede (merseburger landstraße). Von einer „herzschwäche des lichts“ (maribor). Und niemand weiß, wie tief der See ist, „über den du schwimmst pyramiden/ aus wissen und weit oben verschieben/die sterne leis ihre antworten aber/am ufer steht einer und wartet/mit einem einfachen tuch in dem das gras/noch haftet.“ (globus)
Es sind Landschaftsgedichte, welche das große Ganze ebenso in den Blick nehmen wie das kleine Detail. Sie führen zu den Ursprüngen der Welt als Metapher unseres Daseins.
Die professionelle Kritik horchte auf. Ein Debüt mit einer solch inneren Kohärenz, mit einem solch einheitlichen, stimmigen Ton: Das findet sich selten. Und es stimmt. Es fällt auf, mit welcher Souveränität Anja Kampmann dieses Buch komponiert. Glas, Kalk, Eis, Salz, Sand, so heißen die Abschnitte in Proben von Licht und Stein, und es ist, als würden die zu den jeweiligen Untergliederungen gehörenden Texte die Eigenschaften jener Materialien annehmen. Beispielhaft sei das Gedicht waschteichpark aus dem Kapitel eis genannt:
der weg ist ein scheitel in der wiese
versteh
wie das kalte gras die seite füllt
halme die still sich biegen
unter der bank
der sprachen
Es ist, als lägen glitzernde Eiskristalle auf den Seiten dieses Kapitels, so bildhaft kann die Autorin Stimmung und Atmosphäre erzeugen.
Vermochte schon Anja Kampmanns Lyrikdebüt mit seiner Versiertheit zu überzeugen, so gilt dies für den bereits erwähnten Nachfolgeband der hund ist immer hungrig umso mehr.
In formaler Hinsicht schließen die 72 Texte an die Proben aus dem Jahr 2016 an. Auch hier findet sich wieder eine Unterteilung in fünf Kapitel, doch die inhaltliche Dimension ist weiter gefächert. Neben Kindheits- und Jugendszenen finden sich Themen, die ganz dezidiert auf unsere Gegenwart verweisen. Da geht es dann etwa um geklonte Tiere, Natur- und Umweltzerstörung, um Fledermäuse, die von Windrädern gehäckselt werden oder das Abschmelzen der Permafrostböden. Es sind die Herausforderungen unserer Zeit, die da am Rande und teilweise am Randständigen verhandelt werden.
Wer mag, darf Anja Kampmann eine politische Dichterin nennen. Aber ihr Begriff des Politischen manifestiert sich im Detail, nicht im Panorama. Sie fuchtelt nicht mit Botschaften herum wie Luke Skywalker mit dem Laserschwert. Sie nimmt dann auch schon mal den Umweg über das 14. Jahrhundert, um über Corona im Jahr 2021 zu schreiben. Und sie stellt uns den früheren Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann vor, einen vermeintlich guten Nazi. Sie ist mit damit näher am notwendigen Diskurs unserer Zeit als viele der plakativen AfD-Warnungen.
Kampmanns Gedichte sind narrativ. Sie transformieren den Alltag in eine ihm gleichermaßen verhaftete wie enthobene Sprache. Sie erzählen Geschichten, und dabei erzählen sie immer wieder auch von Geschichte. Und dies alles ungeheuer bildhaft, beinahe cineastisch. Ihre Lyrik ist nicht experimentell – wie wohltuend, jubiliert meine innere Stimme.
Anja Kampmann schreibt ihre Texte konsequent klein, verzichtet weitgehend auf Interpunktion. Nicht in Zeilen gebrochen, könnten sie auch als Prosa durchgehen. Und immer ist da diese Melancholie, für die sie ein ums andere Mal Bilder findet, die mich zutiefst berühren. Anja Kampmanns lyrisches Ich bleibt meist ebenso gestalt- wie namenlos, damit den Menschen ähnlich, von denen es erzählt, es sei denn, es mutmaßt, dass ein Arbeiter „mit einsam großem mundgeruch“ Manfred heißt und vielleicht als Möbelpacker arbeitet mit Händen, die er „wie ein zerschundenes gebetbuch“ faltet (A & V).
So sehr ich die Lyrikerin Anja Kampmann bewundere; meine erste Begegnung mit ihrer Arbeit war ihr Romandebüt Wie hoch die Wasser steigen. Das las ich in seinem Erscheinungsjahr 2018 – und war hin und weg.
Wie hoch die Wasser steigen erzählt die Geschichte von Wenzel Groszak, der auf einer Ölplattform arbeitet. Als sein einziger Freund dort unter ungeklärten Umständen verschwindet, reist Wenzel nach Ungarn, um der Familie seines Freundes Mátyás die traurige Nachricht zu überbringen. Wenzel kehrt nicht wieder zu seinem Arbeitsplatz zurück. Stattdessen führt ihn sein Weg über afrikanische und europäische Umwege ins Ruhrgebiet, wo er als Kind polnischer Gastarbeiter aufgewachsen ist.
Wie hoch die Wasser steigen taucht tief in eine Männerwelt ein, ohne zur Karikatur zu geraten. Der Roman erzählt von einem Menschen, der den Verlust eines Freundes zum Anlass nimmt, sich auf die Suche nach sich selbst zu machen. So abgestanden diese Formulierung des Sich-Suchens auch klingen mag: Es ist vielleicht Kampmanns Lebensthema: Von Menschen zu erzählen, die noch nicht oder nicht mehr bei sich sind, sondern in gewisser Hinsicht liquide wie die Landschaften, in denen sie ihr Dasein fristen. Landschaften und Menschen: Sie bedingen einander. Für all das findet die Autorin unbeschmutzte Bilder, die für den Leser zu einer Schule des Lesens und der Sinne werden.
Ein wirklich hervorragendes Buch ist ihr mit Wie hoch die Wasser steigen gelungen. Die Nachricht, die ich von Frau Kampmann vor einigen Wochen erhalten habe, dass ihr zweiter Roman so gut wie fertig sei und dieser im Herbst dieses Jahres erscheinen soll, versetzt mich denn auch in gespannte Erwartung.
Mein Freund Ingo Rüdiger, der auch Mitglied der Jury zur Vergabe des Arno-Reinfrank-Preises ist, hat mich auf ein Gedicht von Arno Reinfrank aufmerksam gemacht, dass ich bis dato nicht kannte. Es heißt Der Koffer und ist 1971 veröffentlicht worden.
Es beginnt mit den Zeilen:
„An meinem Koffer ist der Handgriff durchgerissen, denn Wahrheit im Gepäck ist schwer zu tragen.“
Es endet wie folgt:
„An meinem Koffer sind die Schlösser abgebrochen, die Zeichen von Besitz und Sicherheiten. Ich binde Schnur um meine Last aus Weltvertrauen und reise auf der Hoffnungsbahn der Zeiten.“
Herr Rüdiger meint, das Reinfrank-Gedicht sei in gewisser Hinsicht ein Beleg für die dichterische Nähe der beiden Autoren. Ich stimme dem durchaus zu. Das in eingängiger Sprache verfasste Gedicht markiert eine quasi transitorische Gemengelage aus Zweifel und Hoffnung. Dieses Grenzgängerhafte durchzieht das Werk Reinfranks, wenn er durchaus als regional zu bezeichnende Mundartlyrik auf der einen, weltpolitische Kommentare auf der anderen Seite schreibt. Es macht aber auch sein Leben als Pendler zwischen dem heimatlichen Rhein-Neckar-Raum und den Großstädten London, Berlin und Wien aus.
In Anja Kampmanns bisherigem Werk, der Lyrik wie der Prosa, findet sich dieses Transistorische immer und immer wieder, sei es in topografischer, in emotionaler oder politischer Hinsicht. Ich habe ja bereits darauf hingewiesen.
Unter der Überschrift Die Zwitschermaschine hat Jeannette Koch einen Band mit ausgewählten Gedichten ihres verstorbenen Mannes herausgegeben. Die Lyrikerin Monika Rinck, die Arno-Reinfrank-Preisträgerin aus dem Jahre 2009, schreibt im Nachwort: „Er nahm neue Erkenntnisse in der Naturwissenschaft, aber auch anderer exakter Wissenschaften, sowie das politische Weltgeschehen der Gegenwart und der Vergangenheit zum Anlass seiner vielfältigen poetischen Arbeit. Die Welt in ihrem Wandel war ihm Gelegenheit zur Dichtung.“
Die Welt in ihrem Wandel ist auch Anja Kampmann „Gelegenheit zur Dichtung“, um Monika Rinck zu zitieren. Und sie erfasst unsere Zeit in Gedanken, wie der eingangs erwähnte Hegel das nannte. Sie macht das auf poetische, kluge, auf ganz und gar unverwechselbare und immer auf eindrucksvolle Weise.
Wir ehren heute Abend eine herausragende Autorin mit dem Arno-Reinfrank-Preis 2024. Ein herzliches Dankeschön dafür, liebe Jeannette Koch und Frau Bürgermeisterin Monika Kabs.
Dir, liebe und verehrte Anja, sage ich herzlichen Glückwunsch zu dieser schönen Auszeichnung!