Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2013

Shila Bli: Die Tragödie der Träumerin

Joint Prizewinner for the Gruppe über 12 Jahre Kurzgeschichte. Thema: Freiheit

 
Die Tragödie der Träumerin

Prolog
 

Sie war anders. Sie war nicht normal.
Aber wer ist heutzutage normal?
Sie war pure Melancholie, die langsam auf der Zungenspitze zerschmolz wie Schokolade. Sie war ein Engel, gefangen in der Hölle. Oder war sie der Teufel, gefangen im Paradies?
Machte dies denn noch eine Differenz?
Alice.
Ein Engel mit gebrochenen, schwarzen Flügeln.
Sie war der Duft der Rosen in ihrer höchsten Blütezeit und zugleich der Schmerz den die Dornen verursachten. Jetzt könnte man fragen, was sie so besonders machte.
War es ihr Lächeln? So gebrochen und strahlend.
Oder das Glänzen in ihren dunkelbraunen Augen, den sie sogar während des fließens des Blutes behielt.
Sie war nicht über alle Maßen schön, sie war nicht hochbegabt.
Sie war gebrochen, das war ihre Magie.
In ihr küssten sich Wahnsinn und Genie, Hochgefühl und Abgründe.
Menschen genießen Abgründe, solange sie nicht ihre Reflektionen sind.
Man mochte ihre Anwesenheit, sie war anpassbar wie ein Chamäleon, sich unter der Deckschicht tausender Lügen versteckend.
Alice.
Alice, die größte Träumerin und zur gleichen Zeit der hoffnungsloseste Mensch.
Dies ist die Tragödie eines Mädchens im zarten Alter von 17, das Jahr, in dem sie sich das Leben nahm.
1. Morgengrauen
Eine verhasste Melodie erbrach in der Stille.
Es dauerte ein wenig, bis Alice realisierte, dass es an der Zeit war aufzustehen.
Langsam schlug sie mit der Hand auf ihren Wecker. Er flog in hohem Bogen von ihrem Nachttisch auf ihren dreckigen Zimmerboden.
" Scheisse", murmelte sie.
Sie blinzelte einige Male, die Jalousien waren komplett runtergerollt und dennoch flogen feine Sonnenstrahlen in ihr Zimmer.
Wie unerwünschte Freunde hangen sie an ihrer Zimmerwand, entblößten die Unordnung die herrschte.
Alice hob den Kopf, jedoch nur um ihn sekundenspäter wieder hart gegen ihr Kissen fallen zu lassen. Sollte sie heute aufstehen? Oder sollte sie liegen bleiben, ihren Eltern sagen, sie sei krank?
Aber sie spürte, dass sie heute nicht so schlimm dran war. Sie hatte noch genug Kraft um aufzustehen und sich aus dem Haus zu machen.
Sie lief ins Bad, sprang unter die Dusche.
Als sie unter dem heißen Wasser stand, spürte sie wie ihre frischen Wunden erzitterten. Langsam fuhr sie mit der Hand drüber, wusch ihre Arme nicht mit Seife.
Obwohl es schmerzte, wollte das Mädchen nicht aus dem warmen Wasserstrahl. Ihre Stirn war gegen die Wand gepresst, ihre Gedanken flogen durch den kleinen, fensterlosen Raum.
Ein letztes Mal drehte sie sich im Kreis, versuchte überall gleichviel Wasser zu spüren.
Eine kindische Angewohnheit.
Anschließend wickelte sie ein flauschiges Handtuch um ihren Körper, zog sich ein übergroßes Shirt an und föhnte sich die Haare.
Ihre Haare waren sehr lang, gingen ihr bis zu der Hüfte und waren pechschwarz gefärbt. Meistens kringelten sie sich in sanften Locken, doch heute waren sie glatt.
Sie überlegte, ob sie ihr Bett machen und das Fenster öffnen sollte, die Jalousien hochdrehen und ausnahmsweise Licht in ihr Zimmer lassen sollte, was nicht künstlich war.
Doch innerlich beschloss sie es nicht zu tun.
Wozu? Wenn es doch keinen Unterschied machte.
Alice schminkte sich, fuhr ihre riesigen Augen mit schwarzem Kajal nach. Sie mochte es wenn ihre Augen riesig aussahen. Es half ihr unschuldiger zu wirken.
Sie lächelte sich selbst im Spiegel an, griff nach ihren Beruhigungspillen und warf zwei ein. Runter spülte sie diese mit überzuckertem, kaltem Kaffee von gestern, der noch auf ihrem Schreibtisch stand. Der ekelhafte Geschmack ließ sie das Gesicht verziehen.
Bevor sie ihre Tasche packte und ihr Zimmer verließ, zeigte sie sich selbst nochmal den Mittelfinger im Spiegel.
2. Schneeweiße Dunkelheit

Tagebucheintrag vom 19.03, 7.38 Uhr
Zeit

Es waren Kinder.
Lauter unschuldiger, süßer Engelswesen, reine Herzen in den Händen haltend.
Doch Lüge stumpfte die Reinheit ab, Alkohol ergoss sich über ihre zarten Glieder,
Neid und Armut kämpften lachend um ihren ersten Platz.
Sie bettelten um Gnade, weinten um Vergebung, hielten sich die gebrochenen Knochen gegenseitig fest umklammert, doch Schicksal war anderweitig beschäftigt.
Inspiration und Hoffnung wurden als Kohlestücke benutzt, das Feuer jedoch wärmte nur kurz.
Nackt und geschunden warteten sie nun auf Misstrauen und Skrupellosigkeit.
Sie rupften die Engelsfedern einzeln raus.
Dunkelrotes Blut auf weißen Federn.
Unschuld starb.
Wir waren mal Kinder.

Ich schloss mein Tagebuch, als die Straßenbahn endlich meine Haltestelle erreichte. Ich drängte mich durch die Leute, ihre Stimmen waren nicht präsent. Stattdessen hörte ich dem Zwitschern der Vögel zu, die leise ihre unendlichen Geschichten erzählten.
Die Bäume strahlten heute. Die tiefe Blaufarbe des Himmels störte mich, mein Blick war stur auf den grauen, kaugummiebedeckten Asphalt gerichtet. Ich lief langsam die übrigen Meter.
Als ich die Schule betrat, sah ich, dass meine Freundinnen am Eingang standen. Ich umarmte beide schnell, stellte mich vor sie.
"Alice!", rief Sarah aus, " Wir haben in den ersten beiden Stunden Mathe!" . Ich nicke, ihre hellen, braunen Augen starrten mich fröhlich an.
" Seit wann freust du dich wegen Mathe? Bist du high?", fragte ich grinsend.
" Nein, sie steht auf den Mathelehrer", lachte Maya neben ihr leicht bösartig.
Ich bemerkte, dass ich die einzige war die ein langärmeliges Shirt an hatte. Die Temperaturen waren gestiegen, und das half mir nicht Wunden und Narben zu verstecken.
Sarah zog ein Lipgloss aus der Tasche und fuhr sich über die Lippen. " Nicht auf den Mathelehrer! Auf den neuen im Kurs, der angeblich schon mal im Gefängnis saß", rechtfertigte sie sich, halb witzelnd, halb ehrlich.
Wir lachten halbherzig, unterhielten uns über Belanglosigkeiten.
Ich mochte sie. Sie konnten einen gut ablenken.
Als es klingelte liefen wir zu dritt die Treppen hoch, meine Augen suchten unwillkürlich nach ihm.
Ich erkannte seine Züge im Gesicht so vieler fremder Personen, seine Stimmfarbe im Lachen anderer. Doch er selbst war genauso verschollen, wie meine vage Erinnerung an seine Worte.
Mathe, Mathe, Mathe. Ich versuchte mich in die Realität zurück zu holen.
Als es klingelte standen Sarah und Maya sofort an meinem Tisch, schauten mich ungeduldig an. Ich packte meine Sachen zusammen.
" Unsere Pause geht nur 15 Minuten! Wieso müssen wir jedes Mal 5 davon auf dich warten?", fragte Maya genervt, band sich mit einem Haargummie die Haare.
Ich grinste schief, " Weil ihr mich so liebt."
" Du hast eine komische Vorstellung von Liebe", erwiderte Sarah sarkastisch.
Oh, wenn sie wüsste.
Ich grinste noch breiter, warf meine schwarze Tasche über meine rechte Schulter und ging voran, aus dem Klassensaal hinaus. Ich spürte wie Maya einen Arm um mich legte, hörte Sarahs erfüllte Stimme in meinem Kopf wiederhallen.

Tagebucheintrag vom 19.03, 9.04 Uhr

Ich hätte es mir denken können.
Eiskalte Berührungen, dort wo Wärme sein müsste.
Doch Feuer stand nur in deinen Augen entfacht, stark und zerstörerisch.
Lügen waren die Basis unserer Existenz.
Wir waren verkümmert, zu jung, zu schwach, zu stark.
Als du gingst fragte ich mich, ob du nur eine Halluzination von vielen warst.
Gekommen und gegangen und nichts hinterlassen außer Scherben.
Wie erwartest du sollte ich aus Scherben ein Haus bauen?
Du hattest mich nicht gebrochen. Du hattest mich gebaut, nur um mich wieder zerbrechen zu lassen.
Lüg mich nochmal an, bat ich dich.
Ich liebe dich, lächeltest du.

"ALICE! Hör mir jetzt endlich zu!", rief jemand und riss mir die Stöpsel aus den Ohren.
" Woah, woah, ganz ruhig", sagte ich, aus Gedanken gerissen. Vor mir stand Selina, kopfschüttelnd, böse fauchend und die Augenbrauen erhoben.
" Erstens, du hast gestern nicht zurück gerufen", fing sie an, " zweitens, du wirkst geisteskrank alleine hier sitzend und Worte flüsternd. Und drittens, ich hab dreimal dasselbe erzählt, bis ich aufgab weil du abwesend bist."
" Tut mir leid ", ich blickte schuldbewusst auf den Boden, " Ich bin heute nicht ganz da".
" Was ist los, Süße?", fragte sie mich, verdrehte ihre geglätteten Haarsträhnen in ihren Fingern. Ihre tiefen Augen schienen besorgt, sie runzelte die Stirn.
" Hast du... Ja. Deshalb läufst in diesem Pulli rum. Gott. Ernsthaft, du hast es mir versprochen!", sie schüttelte ganz langsam den Kopf.
Ich wich ihrem Blick aus.
Scham erfüllte mich. Sie wusste zu viel.
" Du gehst kaputt. Das bringt dir gar nichts. Warum hast du dich nicht davor bei mir gemeldet? Du weißt, dass ich für dich da wäre!"
Ich nickte. Und wie ich das wusste. Aber genau darum ging es.
Wie konnte sie mit mir als Last leben ohne zu zerbrechen? Denn was wenn ich zerbrach, würde sie nicht auch zerbrechen? Seit Jahren war Selina die einzige, die mich kannte. Meine Abgründe genauso wie meine Sonnenseiten.
Doch mit den Jahren wurden ihre einst hellbraunen Augen immer dunkler, geprägt von den Schmerzen und der Trauer die sie erlebt hatte.
Was wenn ich sie kaputt machte?
Die Worte blieben mir im Hals stecken, meine Stimme war nicht kräftig genug.
" Es war zu spät", antwortete ich kraftlos.
Sie legte ihre kleine Hand auf meinen Arm, lächelte mich aufmunternd an. " Jeder Tag ist eine neue Chance. Nimm dir vor, dass du es heute nicht tust. Glaub an dich. Ich tue es."
Ich spürte den Druck in meinem Herzen steigen, als würde ich weinen müssen, aber hätte keine Tränen zur Verfügung.
" Danke. Ich versuche es", lächelte ich breit, wohlwissend, dass sie wusste, dass mein Lächeln falsch war. Wohlwissend, dass ich dieses Lächeln nicht mehr oft sehen würde.
Ich umarmte sie, roch ihren Duft ein, der sich trotz wechselnder Parfüms nie verändert hatte.
Als ich sie los lies, bemerkte ich, dass ich zitterte.
3. Suizid

Tagebucheintrag vom 19.03, 22.21 Uhr
Luftballons

Wir waren zerplatze Luftballons.
Nicht fähig zu Glauben, dass wir irgendetwas Wert sind.
Es ist zu viel passiert, als das man uns verstehen könnte.
Worte, die sich tiefer als die Schnitte durch die Haut ziehen.
Tränen, die man einsam in Dunkelheit vergießt.
Alles was wir wollten, war etwas was wir nicht kannten.
Ein zersprungenes Herz, gepresst in Ketten, geküsst von Messern.
Wie sollst du aufrecht laufen,
wenn du selbst versuchst dir die Beine zu brechen,
dich unter der Erde zu vergaben?
Wenn dein Vater, der dich lieben sollte nie da ist?
Die leeren Augen deiner Mutter ein Nichts wiederspiegeln?
Du willst ist gefühllos sein.
Damit der Schmerz aufhört zu fressen, dein Herz nicht mehr so arg blutet.
Schreie werden nicht mehr gehört, wenn sie durchgehend ausgestoßen werden.
Dein Blut ändert nicht die Farbe, nur weil zu viel davon geflossen ist.
Deine Seele wird nicht stärker, nur weil sie tausend Mal durchstochen wurde.
Zerplatze Luftballons.


Da saß sie wieder, alleine, in Dunkelheit gehüllt, im selben verdammten Zimmer.
Dieselben dunkelroten Wände, die spöttisch über sie lachten.
Dieselben Stimmen die mit ihr Sprachen.
Die Stimmen wurden lauter, ihr Herz schlug schneller. Sie hielt die Luft an, schloss ihre Augen.
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. Ausatmen.
Heute half es nichts. Wertlos. Dumm. Hässlich. Abartig hässlich. Katastrophe.
Sie biss sich auf das Innere ihrer Wange, bis Blut floss. Nicht genug Blut. Abschaum. Miststück. Fetter Elefant. Ekelhaftes Missgeschick. Schlampe.
Alice schlug mit dem Kopf gegen ihre Bettkante, das Metalle drückte sich tief in ihren Schädel. Schmerz machte sich breit.
Nicht genug Schmerz. Hure. Fettes, wertloses Tier. FETT. HÄSSLICH. STIRB DU MISSGEBURT.
Ihr Atem ging hektischer. Sie lief zu ihrem Bücherregal, zog das Drama " Faust" hinaus, hinter welchem sie ihre Klinge versteckte.
Blutbedeckt und aus dem Rasierer entfernt, lag er verführerisch vor ihr, bot sich ihr an.
Versprach ihr das, was Menschen ihr nicht geben konnten. Hochgefühl.
Wie magisch lächelte er sie an, bot ihr zu vergessen, was sie nicht vergessen konnte.
Bot ihr Scheinleben für echtes Leben.
Und sie war tatsächlich schwach genug, den Pakt mit dem Teufel jeden Tag aufs Neue zu schließen.
Wertlos. Dumm. Hässlich. Abartig hässlich. Katastrophe. Abschaum. Miststück. Fetter Elefant. Ekelhaftes Missgeschick. Schlampe. STIRB. Stirb. Verdammt du feiges Stück Scheisse. Schau in den Spiegel. Schau in deine hässliche Fratze.
Dann tat sie es.
Schnitt. Schnitt. Schnitt.
Es war nicht genug, es floss kein Blut, es war zu oberflächlich. Sie zog die Luft ein und grub tiefer, tiefer, tiefer, sie wollte endlich rot sehen.
Ihre Haut gab nach, sie gab auf. Dickes Dunkelrot floss über ihre bleichen Arme.
Sie spürte wie ihre Körperspannung nachließ, ihr Atem ruhiger wurde.
Die Klinge warf sie auf den Boden.
Alice war wieder da.
Langsam spürte sie, wie die Ruhe sich wieder in ihr breit machte. Im selben Moment erfüllte gewohnter Selbsthass sie. Das Mädchen drückte Papiertaschentücher gegen ihre offenen Wunden, drei gleichzeitig.
Verdammt.
Es floss viel. Sehr viel. Schuldgefühl überrumpelte sie, lies sie geschockt auf ihre Arme starren. Verdammt.
Sie fing an zu zittern. Realisierte langsam was sie zum unendlichsten Male getan hatte. Sie hatte wieder angefangen. Sie hatte aufgegeben.
Wem versprach sie etwas? Sie war nicht mal in der Lage selbst diesen Schwachsinn zu kontrollieren. Sie würde so gerne weinen. Doch es kam nichts. Gefühle waren wieder eingeschlossen, sie war wieder beherrscht.
Nie wieder, schrieb sie mit Edding in ihr Tagebuch.
Für jeden einzelnen Buchstaben eine Seite verwendend.
Nie wieder, schwor sie leise, lügend.

Tagebucheintrag vom 19.03, 22. 43 Uhr
Engel
Schaue zu wie sich meine Flügel ausweiten,
Wie ich alles hinter mir lasse.
Euphorie.
Jede Droge ist nichts gegen diese Höhe,
lache mich an, ersticken wir zusammen.
Schaue zu wie ich mich erhebe,
wie ich voller Edelmut und stolz die Lüfte beherrsche.
Der Himmel gehört mir, brülle ich.
Doch jetzt schaue zu, wie meine Federn sich lösen,
rot vom Blut gefärbt zu Boden fallen.
Gefärbt durch deinen Hass, meinen Neid,
meine Furcht und lautlosem Schrei.
Ich Weine, versuche meinen den Abfall hinaus zu Zögern.
Ich falle.
Denn der Mensch ist immer näher an der Hölle als am Himmel.

Sie lag in ihrem Bett. Sie starrte ihre Wand an. Das Bild verschwamm immer wieder vor ihren dunklen Augen, versteckte sich und tauchte plötzlich wieder auf.
Alice verließ ihr Zimmer, lief in den Balkon.
Ihre Eltern schliefen, genauso wie ihre Geschwister. Die Stille war ungewohnt, in der zu engen Wohnung. Sonst erfüllt von Stimmen und Schreien.
Sie blickte in den Himmel. Es würde bald regnen.
Erkennen konnte sie nur einzelne Sterne, die aussahen als hätten sie sich verirrt.
Geht wo anders hin, an einen Himmel an den ihr wertgeschätzt werdet, wollte sie ihnen sagen.
Es war Halbmond.
Schon immer übte der Mond eine Faszination auf sie aus. Er erinnerte sie an mehr.
Wie kann etwas so nah und zugleich so fern sein?
Irgendwann wollte sie einen Mondstein berühren, nur um sicher zu gehen, dass sie nicht halluzinierte.

Tagebucheintrag vom 20.03, 00.03 Uhr
Sternschuppe
Beobachte die Sterne im Himmel, glänzend wie Diamanten;
früher glaubte ich daran, dass jeder Stern für eine Liebesgeschichte steht und wir somit ununterbrochen im Glück anderer stehen, selbst wenn wir tieftraurig sind.
Das Glück uns somit anstrahlt, sogar wenn wir blind dafür sind.
Heute stehe ich unter dem pechschwarzen Himmel, weiß nicht mehr ob ich mit meinen Händen Regentropfen oder Tränen auffange.
Es hieß damals: Glaub an deine Träume, aber verträume nicht dein Leben.
Heute beobachte ich mein Leben, habe selbst keinen Platz mehr darin.
Wann bin ich zu hoch gesprungen?
Lasse mich nun fallen, doch meine Flügel sind eingeknickt.
Kann nicht mehr zwischen Realität und Traum unterscheiden.
Ich schließe mein abgewälztes Tagebuch, blicke auf das Messer auf meinem schwarzen Nachttisch.
Die Chance durch das Aufschneiden der Pulsader zu sterben beträgt 40 %, habe ich irgendwann mal gelesen. Eine Kugel durch den Kopf beträgt 100 %.
Ich blicke mich gedankenverloren in meinem Zimmer um. Ein Mix aus Schlafmitteln, Beruhigungspillen, Schmerzmitteln. Wie viel Prozent das Wohl macht?
Ich denke an die mögliche Statistik, während ich anfange von allem was ich finde ein paar in meine Hand zu legen. Wieso nicht?
Was habe ich zu gewinnen? Was hast du zu verlieren Alice?
Wieso sollte ich weiterleben? Wieso solltest du es nicht?
Wieso sollte ich unnötig weiterkämpfen? Wieso?
Wer schert sich um meine verkümmerte Existenz? Heuchlerin.
Wieso soll ich es nicht einfach beenden. Ich will nicht mehr. Ich bin zu schwach, das Leben zu hart. Verloren, einsam, zerbrochen, zerstört, in Stücke gerissen, demoliert, kaputt, erschöpft, zersplittert, in Ruinen stehend, müde.
Ich gebe auf. Kapituliere. Ich lächle breit, aus Gewohnheit.
Dann erinnere ich mich, dass ich alleine bin.
Mein Lächeln erstickt, ich spiele mit den Pillen. In die andere Hand nehme ich das Messer.
Es verspricht mir dasselbe wie die Klinge.
Ich höre mich lachen. Wie scharf es wohl ist? Ich nehme eine dünne Haarsträhne, halte das Messer dagegen, übe kaum Druck aus.
Die Haare fallen zu Boden.
Wow. Sehr scharf. Rasiermesserscharf.
Ich halte die Luft an.
Tränen fließen über meine Wangen, dies ist der Moment auf den ich hingefiebert habe. Ich kann mich befreien. Ich kann gehen. Ich kann diese verdammten Ketten lösen die mich halten. Was legitimiert mein Dasein auf dieser Welt?
Ich atme aus und lege das Messer an meine Pulsader.
5. Wiedergeburt
Liebes Tagebuch, 17.8, 18.37 Uhr
Ein halbes Jahr ist seit jenem bitteren Tag im März vergangen. Die Blätter sind wieder bunt, die Temperaturen sind gefallen.
Damals bin ich gestorben. Jedoch nur um wieder geboren zu werden.
Ich durchlief die Hölle nachdem meine Eltern mich fanden.
Ich hatte Glück, dass sie durch den Lärm aufgewacht waren.
Ich hatte Glück, dass ich nicht gestorben bin.
Tage, Wochen, Monate sind vergangen. Ich habe viel gelernt. Ich habe gelernt, dass Traurigkeit Süchtig machen kann. Dass Einsamkeit zu bittersüß sein kann.
Und das Menschen fallen müssen, um wieder fliegen zu lernen.
Wie ich das gelernt habe?
Um das zu beantworten kenne ich nicht genug Worte, nicht genug Erklärungen.
Jeder Mensch hat sein eigenes Streben nach dem Sinn als Pflicht.
Manchmal streiche ich mir über die Narben um mich daran zu erinnern, dass es mein anderes, zerbrochene Ich auch gab.
Das Leben ist nicht perfekt. Ich bin es nicht. Werde es nie sein.
Es gibt immer noch Tage an welchen ich mehr als einen Grund brauche um aus dem Bett zukommen. Es gibt Momente in denen ich falle. Momente, in denen das andere Ich zurückkommen will.
Ängste, die mich versuchen aufzuessen, während ich nicht genug Kraft habe Schwerter in die Hand zunehmen.
Der Krieg ist nicht beendet. Doch die Sterne erinnern mich daran nicht aufzugeben.
Glück

Unerfahren glaubte ich an Glück,
doch mit den Jahren verlor ich jenen Glauben und lernte das Streben nach Glück kennen.
Ich verstand Unverständnis,
liebte Trauer und Freude als Zwillinge
und Begriff das Unbegreifliche,
Lebte den Tod und starb das Leben, um nach Glück zu Streben.
Denn nur im Streben liegt das Glück.


Manchmal bedeutet Freiheit , sich dafür zu entscheiden zu bleiben, statt zu gehen.


Ende