Der Preis ehrt mich und macht mich demütig. Es bedeutet mir dabei viel, ihn in Speyer zu erhalten, bin ich doch schließlich gewissermaßen „von hier“ – aufgewachsen in der Nähe, in Landau, und heute berufstätig und sesshaft in Kaiserslautern. Diese geographische Verortung bindet mich an Arno Reinfrank – doch dazu gleich mehr.
Ich möchte mich vom Kleinen zum Großen vorarbeiten: Hier stehe ich, ein Schriftsteller, und bekomme einen Preis, der nach einem anderen Schriftsteller benannt wurde. Ich konnte nicht anders, als mich zunächst auf die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen mir und Arno Reinfrank zu machen. Ich fragte mich, ob nicht etwa eine Ähnlichkeit unserer Stile oder Sujets, unserer Weltanschauungen oder Haltungen meinen Sieg begünstig habe.
(Ich weiß, dass das irrational ist.)
Doch bevor ich zu alle dem überhaupt vorstoßen konnte, blieb ich an der Ähnlichkeit unserer Biografien hängen. Die Lebensläufe von Arno Reinfrank und mir weisen einige Parallelen auf – oder besser gesagt: einige Chiasmen.
Arno kam in Mannheim auf die Welt, beschloss jedoch, sein Leben in London zu verbringen (was ich mehr als verständlich finde). Ich hingegen kam in Sarajevo auf die Welt und man beschloss für mich, dass ich nach Mannheim müsse, um zu leben. Arno Reinfrank lebte zwar in England, schrieb jedoch weiterhin auf Deutsch, während ich irgendwann beschloss, in der Sprache meiner neuen Heimat zu arbeiten. Dies geschah sowohl aus Notwendigkeit wie auch aus fortschreitender Identifikation: Die Entwicklung meiner Muttersprache hatte mit 13 aufgehört, als wir nach Deutschland kamen, während mein deutscher Spracherwerb immer weiter voranschritt, ein zunehmend deutsches Denken nach sich ziehend, ein Denken, das sich aus der sperrigen Syntax und einem im Vergleich zu südslawischen Sprachen sparsamen Umgang mit Suffixen ergab.
Diese Identifikation ging so weit, dass ich mich während meines Studienjahrs in Großbritannien wiederholt dabei erwischte, wie ich Heimweh nach Deutschland fühlte, wo außer meiner Familie all meine Freunde lebten. So schön Bristol war, so fremd blieb mir England – seltsamerweise, denn ich war vor meiner Ankunft dort begeistert anglophil gewesen, ein leidenschaftlicher Anglistik-Student.
Unabhängig, ob Sprache einen an die Heimat ankert, wie mich und (vielleicht) Arno Reinfrank, wir leben in einer Zeit, die heimatliche Konzepte missachtet. Wir leben in einem Zeitalter globaler Probleme. Weder die Pandemie, die uns sei nunmehr zwei Jahren in diesem seltsamen Halbleben sinnlicher Entbehrung gefangen hält, noch der Klimawandel, diese Hinterlassenschaft im Hedonismus vergreister Vorgängergenerationen, sind auf nationaler Ebene zu lösen.
Damit stelle ich nichts Neues fest, gleichwohl finde ich, dass die Fragen, vor die unser Zeitalter Literatur gestellt hat, noch nicht beantwortet worden sind – manchmal habe ich das Gefühl, man habe sie noch nicht einmal zu Ende formuliert.
Ist Literatur mit ihrem ewigen Kreisen um solche Themen wie Gewissen, Liebe, Tod, Unglück und nicht zuletzt auch Heimat im Zeitalter intensivster globaler Bedrohung etwas anderes als Kleinkunst?
Es sind nunmehr 80 Jahre vergangen, seit die Menschheit mit der Erfindung der Atombombe ihre eigene Auslöschung ermöglicht hat, doch hat die Natur des Kalten Kriegs der Literatur einen Rückzug ins Kleine ermöglicht: Der Kalte Krieg war stets einer, der lediglich kurz vor dem Ausbruch stand. Dessen Ausbruch man zwar fürchtete – dessen Ausbruch zugleich aber in der Hand einigermaßen rationaler Wesen lag. Ein Krieg, der nicht ausbricht, erlaubt es der Literatur, endlos über den Frieden zu reden – Berliner Mietpreise sind ein folgerichtiges Sujet dieser Entwicklung.
Nun ist es aber so, dass sowohl die Pandemie wie auch der Klimawandel ausgebrochen sind. Über ihren Ausbruch ließ sich im Gegensatz zu dem des Kalten Kriegs nicht verhandeln – wobei das nicht richtig ist: Es hätte sich verhandeln lassen, aber wir haben diese Ausbrüche lieber heraufbeschworen als verhindert.
Pandemien und ökologischer Kollaps waren bisher auch Sujets, die eher dem Genre angehörten als der Belletristik – man denke an „Soylent Green“ und „I am Legend“. Wagten sich Belletristen an eins dieser Themen, zogen sie üblich die falschen Schlüsse: Man denke nur an Camus‘ schlecht gealterte „Pest“, wo sich eine epidemische Situation letztendlich nur als eine Prüfung von Individuen darstellt. Die Corona-Pandemie hat sich vor allem als Prüfung des Kollektivs durch Individuen abgespielt, durch Menschen, die sich aus Furcht, Irrationalität oder Starrsinn nicht impfen lassen oder an Regeln halten wollen.
Was bedeutet also diese Welt in absoluter Krise für Literatur? Soll Literatur weiterhin versuchen zu warnen, obwohl die meisten dystopischen Linienverlängerungen ins Nichts führen? Soll sie sich ausschließlich mit Problemen befassen?
Nein. Aber Literatur muss unbedingt versuchen, wie ich es in dieser Rede getan habe, von kleinen Themen zu den Großen zu wandern. Literatur muss aufhören, eine reine Ablenkung zu sein. Solange Literatur sich mit Sujets wie Mietpreisen oder der Ungerechtigkeit des Arbeitsmarkts befasst, mit Themen also, die bewältigbar sind, deren Lösung bereits im Gange ist, ohne dass Literatur irgendwie zu ihr beigetragen habe – so lange ist Literatur bloßer Zeitvertrieb.
In seiner Erzählung „Noahs Arche“ stellt Arno Reinfrank die Brutalität dar, mit der Noah überzählige Tiere daran hindert, auf sein Schiff zu klettern – die Grausamkeit jener, die nicht aus Nächstenliebe, sondern im Auftrag retten, ist ein Thema von furchtbarer Zeitlosigkeit, wie uns der Blick auf die andauernde Flüchtlingskrise zeigt. Davon spreche ich also, wenn ich von guter Literatur spreche. Ich spreche von einer Literatur, die sich nicht mit dem Kleinen zufrieden gibt.
In meinem Roman „Die Fahne der Wünsche“ habe ich versucht, eine Figur zu entwerfen, die vor allem leidensfähig ist – leidensfähig auf Kosten des dabei immer mehr zu Stein werdenden Herzens. Die kommenden Zeiten werden uns auf die Prüfung stellen. Wir werden unsere Leidensfähigkeit beweisen müssen. Es bleibt abzuwarten, zu welchem Preis.