Arno Reinfrank

Tapfere geschundene Welt

Bibliographie

"Auf viele Fragen
bekommen wir zu hören:
Patentantworten gibt es nicht.
Das ist eine patente Antwort
auf viele Fragen."
(frei nach Erich Fried)

Die Welt und das Gedicht, wie reimt sich das? (Wie koexistieren die beiden?) Denn daß die Gedichte voll sind von Dingen und Sorgen dieser Welt, auch die modernen, die allerneuesten und subjektivsten, das läßt sich gar nicht übersehen. Bei allen Rückzügen auf sich selbst, die stattgefunden haben, bei aller Konzentration auf das menschliche oder dichterische Innenleben: noch den Nervenbahnen dieses kostbaren Inneren sind eingeätzt die frappierendsten Erscheinungen, die befremdlichen Gesetze, die überhaupt nicht auszulotenden Gründe der äußeren Realität.

"Das stille Wirken des Blattgrüns im grünen Salat

das lärmende Wirken des grünen Salats in uns."

So sieht es Nicolas Born, und ähnlich konstatieren, fragen, grübeln, schmecken nicht wenige der angeblich so weltfremden heutigen Poeten. Die Welt der längst erschlossenen Natur gibt noch immer eine unendliche Zahl von Gedichtzeilen auf Die nie genug bedachte menschliche Gesellschaft tut das erst recht.

"Was verspricht das angelegte Ohr des Pferdes.

Was bedeuten die Schmerzen in den Armen der Putzfrau
deren Welt seit zwanzig Jahren im Eimer liegt?"

Wie sie umgehen mit dieser so unergründlich-bedrohlichen Welt, das ist das wirkliche Erkennungsmerkmal der modernen Poeten, ihr gar nicht verstecktes Fabrikationsgeheimnis. Nur selten noch besonders fromm und pietätvoll, obgleich sie ihr immer noch aufmerksamer zuhören und zuschauen als die meisten von uns nichtdichtenden Zeitgenossen. Eher setzen sie ihr zu, rechten und zürnen mit ihren fatalen Tendenzen der Entwertung, Vergleichgültigung, der Zerstörung des Raums zum Leben und Atmen. Aber nicht die Anklage ist ihr vordringlichster Ton. (Sie war ihr letztes Wort nur in der vorletzten Dekade.) Mit einem erstaunlichen Maß von Geduld und Ruhe, mit Neugier sehen sie heute auf das, was sich entwickelt und uns durchzustreichen droht. Befremdend ist das meiste, was da geschieht, aber weil es fremd ist, verlangt es genau gekannt zu werden. Was ist, hat schon immer den Kredit der Aufmerksamkeit für sich. Es ist auch nie ganz fremd, machen sie uns klar. Sie finden sich, wir finden uns in vielem wieder, was sich Bedrohliches oder Aufsehenerregendes in dieser Welt zuträgt. Mit allen vereisenden, aufspießenden Blicken und Wortgesten machen sie aus dem Ensemble der umgebenden Dinge keine Ausstellungshalle, eher einen Resonanzboden: Es liegt ihnen und uns viel näher, als wir alle wahrhaben wollen. Ob sie sich diesem Boden auch anvertrauen, ihm ausliefern? Mich hat sehr frappiert, daß Christian Geissler mitten in seine brennend und schneidend kritischen Gedichte aus der Vorbereitungszeit der Wende" (von 1980?82) eine Liebeserklärung an "die Welt" aufgenommen hat. Was ist denn, im Kontrast zu den menschlichen Verhaltensweisen (oder zu den Beteuerungen der Linken") verläßlich, kompetent, ohne Trug, ohne Angst?

"die liebe welt

ihr lieben genossen"

Arno Reinfranks Verse, je neuer um so mehr, quellen geradezu über von Beobachtungen dessen, was sich in der umgebenden Welt begibt. Er scheint unseren Medien mit ihren Nachrichtenfiltern nicht recht zu trauen. Er informiert uns neu, anders. In seiner privaten Detektei geraten Erkenntnisse über ganz alte, nur noch nicht genug bedachte Zustände neben die atemlose Verfolgung von neu entwickelten Fähigkeiten, mit denen die Menschen einander noch besser zurichten, kontrollieren, verwerten, denaturieren können. Vertraulich und verdaulich ist ja vieles". Eine so vielfältige Welt, als wollte er Diderots höchst dynamische Enzyklopädie nocheinmal neu, auf dem heutigen Stand und in Gedichten liefern.

Die Eßlust, der Umgang mit Manuskripten, die Meßkunst mit ihrem problematischen Maßstab, die kompetente Bearbeitung von Metallen, überhaupt eine unvorstellbare Menge an Arbeit, aber auch die erfahrungsgesättigte Fähigkeit des Bettelns treten neben die Mathematik, die Erdgeschichte, die ungeheure Geschichte der Erderschließung und Industriealisierung. Die Eigenschaften des Holzes, des Gummis, des Winds (an sich und für die windmühlenbauenden Menschen) bringen die darauf gestoßenen Leserinnen und Leser zu sonderbaren Aha?Erlebnissen. "Der Widerstand von Gummi und Geschichte" schnellt uns plötzlich in ganz andere Bereiche in diesem so tief gestaffelten und überkreuz oder noch rätselhafter verbundenen Kosmos. Eigentümlichkeiten der Materie finden sich in Denkgesetzen wieder ? oder in hartnäckigen Hindernissen für die notwendige Fortentwicklung des Denkens. Noch am abgezogenen Fell des Seehunds läßt sich ein Drang zur Freiheit beobachten (beobachten?), und der wird mit der Obstinanz eines Büchnerschen Budenbesitzers vorgeführt, um die menschliche Sozietät zu beschämen.

"Was sich an Universitäten gern allein bespiegelt,

ist nachweisbar in der Natur als deren Teil -
nicht wägbar, kostbar, schätzenswert"

und immer wieder reicher als geahnt, wirksamer als wir es in unserer verkümmerten Praxis gelten lassen, häufiger als angenommen wird".

Die Fahrlässigkeit des Weltzustands, die grausamen Folgen der Wissenschaft wie der Diplomatie springen bei einer so energischen und beweglichen Beobachtungsgabe unmittelbar ins Auge. Arno Reinfrank gehört zu den vielen neueren Schriftstellern, die nicht die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum zum Schreiben gebracht hat und heute zu Schreiben bringt. Er persönlich hat als verfolgter Sohn eines Nazi-Gegners, selber knapp davongekommen, Überlebender aus einem Volk, das vernichtet wurde, überhaupt keinen Grund, irgendjemandem oder irgendetwas um ihn herum zu vertrauen. Er kann nicht einmal der Sprache trauen, in der er sich weiterhin ausdrückt. In seinen früheren Arbeiten hat er die Frage danach, in was für Hände er geraten ist und immer noch ist, so bohrend zugespitzt, bis die Ausdrücke zersprangen, die Logik zu schmelzen begann, bis die Frage überhaupt in Frage gestellt war. Bis heute ist Arno Reinfrank in der Welt nur anwesend und nicht recht zu Hause. Er gehört nirgends hin, er ist gerade deshalb auch mit allem konfrontiert; er kann nirgends wegsehen. Er bezieht sich oft auf den Nachfolgestaat des "Dritten Reiches", aber er denkt an die Nachfolgemenschheit. Seine Verse sind nur in Deutsch abgefaßt, sie sind international, so wie die Verstrahlung, die chemische Vergiftung von Boden, Luft und Wasser sich nicht mehr national fassen läßt. Die Enthropie, zu der alle bisherigen Manipulationen am Energiehaushalt nur noch beitragen, bedroht das ganze System Erde. "Die Schuldschrift an der Tafel" addiert sich aus vielen Posten der Naturgeschichte, Naturbeherrschung und des Umgangs von Menschen mit Menschen. Im Großen wie im Kleinsten und Geheimsten, überall "gefälschte Rechnungen und Korruption".

Auf manche der unsäglichen "Verschneidungen", jahrtausendalte wie allerneueste, reagiert der Autor seinerseits ätzend und schneidend. In seinen Hintergedanken oder Angsträumen, die er manchmal den Schlußzeilen seiner Gedichte anvertraut, sieht er voraus, daß die gequälte Kreatur, das geschundene und vergiftete Meer selbst, personalisiert in einem gewaltigen Moby Dick, eine verzweifelte Rache an den Verursachern der Pein nimmt. Die Verursacher aber sind bei der immer weitergeltenden Kollektivschuld der Menschheit wir". "Wir" lassen es an der lebensnotwendigen Neugier und Vorsicht fehlen. Vertrautem schenken wir Vertrauen". Eben hier liegen die Einbruchstellen der Zerstörung und Selbstzerstörung. Bruchstellen der Sicherheit".

Katastrophenlyrik also? In Verse gesetzte ungereimte Faschismusvorwürfe an die heutige Industrie und Marktwirtschaft? Arno Reinfrank würde davor nicht zurückscheuen, nicht einmal vor der Abstempelung, die folgen würde. Aber er kann weder die gegenständliche Welt so rasch, sei es auch nur in der Vorstellung, preisgeben noch sich selbst aus dem konstatierten Zustand des Unheils herausziehen. Die Erde fragt, antworten müssen wir." Bei aller Verderbnis bleibt die Verpflichtung zur Suche, unaufhörlich, die Pflicht zur Phantasie im Kernbereich der Wissenschaft, die Notwendigkeit zum Umwenden der Gedanken, die er gern, mitten im Gedicht, "Dialektik" nennt:

Die Welt ist diese gemeine, ätzende und verätzte Welt, die geschundene Kreatur und ein Ensemble von Schindern. Und sie ist zugleich, wiederum zur Beschämung der gedankenlosen oder verzagten Menschen und Intelligenzen, ein Bündel von Tapferkeit und Phantastik und unauslotbar produktiven Kräften. So zerstört sie ist, ganz vielleicht bleibt sie unbesiegbar. Die Welt ist auch ein Gedankenfeld: Reinfrank setzt auf die Methode Brechts, den er als einzigen seiner großen Meister hier nennt und ehrt. Die Poesie soll, wie die Wissenschaft, "neulandgierig" sein. So
bricht er viele geschlossene Zusammenhänge auf ? darunter auch denjenigen, der mit dem Wort Religion abgestempelt wird ? und hält die Dinge offen. Mit der nachgestellten letzten Zeile seiner Gedichte unterstreicht er die Bewegung der Suche, der Austreibung aus dem zu Unrecht Gewohnten. Man erwartet, wenn schon keine "Moral" mehr, dann ein letztes Wort, die Pointe, und man findet: "Kommando zurück" und von neuem", die Illusion noch einmal, zur Potenz erhoben oder zur Provokation verschärft, bestenfalls Rätselbilder, das Salz" der Arbeit, ,grobgekörnt", "Das Mikroskop als Schwester schwerer Rosen".

Diese Lyrik hinterläßt Spuren in denen, die sie lesen. Noch in der dichtesten und hohlsten Existenz, der des Touristen in der ausgelutschten Lüge von Rüdesheim, wird wenigstens noch ein "unbestimmtes Klopfen in der Stirn" aufgedeckt: eine ziehende Erinnerung daran, daß hinter dem betäubenden Geschäft einmal ein Traum gestanden hat, oder hätte stehen können, oder sich darin hätte suchen lassen sollen. Die Spuren jucken nicht nur, sie beißen auch, manchmal. Der liebe Arno Reinfrank, einer der liebenswürdigsten Autoren und Emigranten, die ich kennengelernt habe, kann ausgesprochen tückisch werden. Selbst die Ballistik, die den Weg von Geschossen errechnet, eine der widerwärtigsten Wissenschaften also, hat einen menschlichen Kern. Ihre Anwender, die Individuen am Rand und in der Kette jenes Vorgangs, durch den aus derlei Erfindungen Profit gezogen wird, sind Menschen. Sie spielen gern. Die glatte Härte von Billardbällen und die glatte Weiche der Mutterbrust geht in ihrer von wenig Bewußtsein beunruhigenden Existenz eine träumerische Einheit ein. "Infantil, naiv, infam!" so empört sich das von solcher Logik betroffene Opfer, z. B. der Journalist in Guhas Tagebuch" aus dem Dritten Weltkrieg, "Ende". In Reinfranks Gedichten empört sich keiner, oder wenn, dann viel verschwiegener. So ist das, stellt der Autor fest. Mit einem solchen Geisteszustand, in der Rüstungsindustrie wie beim Militär, müssen wir rechnen. "Zur Beruhigung" heißt sein letztes Wort.

Doch auch die Tücke, gerade die Tücke, soll ebenso wie die viele Bitterkeit seiner Lebenserfahrung die Geschehnisse mit ihrer defekten Logik nicht dichtmachen, sie soll sie aufknacken. Wer will und wer sieht, soll einen Fuß in die Spalte stellen können. Der Mensch ist nahezu total verwertbar ? die primitiven Menschenfresser wurden durch die moderne Wissenschaft längst überboten, im Faschismus zu einem Endpunkt gebracht, und plötzlich wird fraglich, ob das schon der Gipfel war. Aber trotz der behaupteten und befohlenen Totalität bleibt ? heute noch? oder überhaupt? ?"noch immer etwas" übrig. Soll das ein Hohn sein? Ein Funken Hoffnung? Jedenfalls ein Hinweis darauf, daß der so malträtierte, zum Objekt gemachte Mensch doch einen Kopf hätte. der sich eigentlich anders brauchen ließe.

Dazu, glaube ich, schreibt Arno Reinfrank seine Gedichte.

Prof. Dr. Gerhard Bauer  Berlin