Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Literaturpreis 2006

Literaturpreis 2006-Jan-Wagner-Avernische-Vögel

Avernische Vögel
Von den Fakten der Poesie

Die Poesie ist keine harte Münze - jedenfalls nicht in den Augen derer, die sie belächeln, die sie vielleicht sogar verachten, weil sie dem harten Biss dessen, dem die Realität unbedenklich ist, nichts entgegenzusetzen scheint. Daß sich mit Gedichten k eine Reichtümer erwerben lassen und sie als Wirtschaftsfaktor keine nennenswerte Rolle spielen, dürfte hinlänglich bekannt sein. Auch, daß die Lyrik die Reichweite und Wirkmächtigkeit, die sie zu früheren Zeiten einmal gehabt haben mag, längst eingebüßt hat und heute eine Nischenexistenz zu führen gezwungen ist - was viele ihr Schicksal, manche ihr Glück nennen -, ist kein Geheimnis. Beides jedoch kann nicht der Grund dafür sein, daß sich bei Gesprächspartnern, sobald die Rede auf Dichtung kommt oder man sich, behüte, als Lyriker entpuppt, ein ungläubiges Staunen einstellt, mehr noch: Daß die Blicke der Umstehenden bei der bloßen Erwähnung des Wortes peinlich berührt die Schuhspitzen suchen. Marginalisiert sind auch Glasbläser, Lamazüchter und Triangelvi rtuosen, und doch wird keiner von ihnen mit einer ähnlichen Reaktion rechnen müssen. Vielleicht ist der wahre Grund für die Betrete nheit, die Lyrik heutzutage auslösen kann, in einem hartnäckigen Vorurteil zu suchen, das den Umgang mit ihr noch immer erschwert - oder erleichtert, wenn man ihr übel will. Ich denke an die alte Vorstellung, daß es sich bei Gedichten stets um in Worte gekleidete Emotionen handelt. In den Augen ihrer Verächter, die also aus gutem Grund nach ihrer Schulzeit nichts mehr mit Poesie zu tun haben wollen, ist ein solches Gedicht ein tunlichst in der Schublade zu verbergendes Dokument eines Augenblicks der Schwäche, oder aber, einmal an die Öffentlichkeit gelangt - und das, Gipfel der Dreistigkeit, vielleicht gar aus freien Stücken - so beschämend wie ein Tränen ausbruch vor der Betriebsversammlung.
Vielleicht sind die Dichter nicht ganz schuldlos an dem Bild, das man sich von ihrer Tätigkeit macht. Vielleicht, das ist möglich, kult ivieren sie selber allzuoft das Klischee des verträumten Poeten oder ziehen sich auf so vage und vorbelastete Begriffe wie Muse und Inspiration zurück - aus Bequemlichkeit oder um den lästigen Fragen und den anschließenden, mühseligen Erklärungsversuchen aus dem Weg zu gehen. Tatsächlich gerät man selbst heute noch unter Lyriker, denen die Worte Seele, Herz und Schmerz allzu leicht über die bebenden Lippen gehen, die Gefühl mit Gefühligem und Kunst mit Aufrichtigkeit verwechseln - oder, schlimmer noch, der Erwartungshaltung ihrer Zuhörerschaft mit umflortem Blick zu entsprechen versuchen. Wie kann es da verwundern, daß auch ein breites Publikum die Poesie für etwas hält, das sich jeder Definition entzieht, das eher wabernd als präzise ist und sich nicht greifen läßt? Vor diesem Hintergrund muß die von Arno Reinfrank zum Programm erhobene, auf den schottischen Lyriker Hugh MacDiarmid zurückgehende Wendung "Poesie der Fakten", muß das gesamte, auf zehn Bände angelegte Projekt von Reinfranks Faktenpoesie wie ein Widerspruch in sich, ja wie eine gezielte Provokation klingen. Immerhin wurde das Wort Fakt im siebzehnten Jahrhundert aus dem Partizip Perfekt des lateinischen Verbs "facere" gebildet - "factum", all jenes also bezeichnend, das getan und unwiderlegbar ist und damit, kurz gesagt, als Gegenteil der Poesie gelten kann, die sich dem Rationalen ja geradezu zu entziehen scheint. Die Worte "Fetisch" und "Affekt", die ebenfalls auf die Grundform "facere" zurückgehen, mag man noch so eben mit der Poesie in Verbindung bringen, weniger aber das "Fazit", vom "Effekt" in diesen Tagen ganz zu schweigen. Wie aber erst, wenn mit den Fakten, die hier auf ungebührliche Weise mit der Poesie verklammert werden, die Erkenntnisse und die Erzeugnisse der modernen Naturwissenschaften gemeint sind?
"Ich beziehe mich", sagte Arno Reinfrank in einem Hörfunkgespräch, "auf Fakten, die von der Gesellschaft [...] jetzt hergestellt werden. Für alles, was wir seit der Erfindung der Dampfmaschine Ende des 18. Jahrhunderts geschafft haben, sind nur minimale Gedichtsäußerung en nachzuweisen, so, als gehöre es nicht zu unserer Welt. Man messe daran die Fülle der auf die feudalistische Vorzeit abzielenden Äußerung en! Ich finde es für einen Poeten, dem Avantgarde mehr als ein Spielbegriff ist, unerläßlich, daß er sich mit diesen Dingen beschäftigt." Ob es nun eine beabsichtigte Anspielung ist oder nicht: Man kann aus diesen Worten Reinfranks den Nachhall einer berühmten Rede vernehmen, d ie dreißig Jahre vor dem zitierten Radiogespräch, nämlich am siebten Mai des Jahres 1959 im Senate House der Universität Cambridge geh alten wurde. The Two Cultures and the Scientific Revolution war der Titel der sogenannten "Rede Lecture", die Sir Charles Percy Snow, seines Zeichens Physiker und Autor der elfbändigen Romanreihe Strangers and Brothers, an jenem Tag seinem Publikum zu Gehör brachte. Die Argu mentation und der Vorwurf ähneln sich, wie man sogleich hören wird: "Es ist seltsam", so P.C. Snow, "wie wenig von den Naturwissenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts Eingang in die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts gefunden hat. Ab und zu nur pflegte man auf Dichter zu treffen, die sich wissenschaftliche Begriffe zu eigen machten und sie falsch benutzten - es gab eine Zeit, zu der in der Lyrik immer wieder und auf mystif izierende Art und Weise das Wort 'Refraktion' auftauchte und 'polarisiertes Licht' so gebraucht wurde, als stellten sich die Schriftsteller darunter ein e ganz besonders herrliche Art von Licht vor. Natürlich kommt die Naturwissenschaft der Kunst so nicht zugute. Sie muß als Teil der Gesamtheit un serer geistigen Erfahrung gelten, sie muß darin einfließen dürfen und ebenso selbstverständlich genutzt werden wie alles Übrige." Snow, der bez eichnenderweise beiden Sphären, der Kunst und der Wissenschaft, angehörte, machte eine Kluft zwischen der traditionellen humanistischen Kul tur und den noch relativ jungen Naturwissenschaften aus, die sich, wie er ausführte, seit den Tagen der Industriellen Revolution immer mehr verti eft und schließlich dazu geführt hätte, daß sich zwei Gruppen, Geistes- und Naturwissenschaftler, unversöhnlich gegenüberstanden, ohne einand er zu verstehen, ja ohne einander verstehen zu wollen. Das gesamte intellektuelle Leben der westlichen Welt sei zunehmend gespalten, lebe und arbeite in kompletter Unkenntnis des komplementären Teils - zum Schaden aller. Während die Naturwissenschaftler dabei immerhin noch vom tr aditionellen Bildungswesen geprägt seien, wüßten die Schöngeister auch mit den Grundlagen der Mathematik und Physik nichts anzufangen: Mehr ere Male habe er, so Snow, bei einer Dinner Party scherzhaft um eine Definition des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik gebeten - für ihn schlic ht das Gegenstück zu der Frage, ob man jemals ein Werk von Shakespeare gelesen habe -, nur um mit Schweigen und Desinteresse bedacht zu w erden. Beide Fraktionen seien folglich aus freien Stücken in ihrer Wahrnehmung eingeschränkt, würden sich gar, vor allem die Humanisten, mit ihrem Mangel brüsten. Die Diskussion, die sich an Snows Rede in Cambridge anschloß - einer seiner Widersacher war der Kritiker Frank Raymond Leavis - , wurde mit aller Heftigkeit geführt und hielt noch Jahre an - bis heute. Umso kühner, mag man denken, wenn ausgerechnet ein Lyriker, der ja selbst n ur einen dunklen Gnadenwinkel hinterm Ofen der humanistischen Kultur bewohnt, eine Symbiose beider Bereiche anstrebt und eine "Poesie der F akten" propagiert. Man sollte jedoch nicht unterschlagen, daß diese Haltung in Wirklichkeit Teil einer äußerst ehrwürdigen und gar nicht mal so ju ngen Tradition ist.
Was die Theorie betrifft, hat, wie Sie wissen, die Dichtkunst der Moderne nicht selten auf die Wissenschaften zurückgegriffen und sie in ihren poetologischen Texten zumindest in metaphorischer Art und Weise bemüht - und sei es auch nur, wie man vermuten könnte, um die ungleich größere Gruppe der Musenjünger und Äolsharfenbeschwörer mit dem blanken Technizismus der Ausführungen zu provozieren. Das fängt an mit dem berühmten Essay The Philosophy of Composition, in dem Edgar Allen Poe die Konstruktion seines Gedichts "The Raven" in nüchterner Manier mit der Mechanik einer Theatermaschinerie verglich; das geht weiter mit den Dichterärzten William Carlos Williams und natürlich Gottfried Benn, die ihre Schreibtische mit einer Werkstatt und einem Laboratorium verglichen wissen wollten. Doch auch in den Werken vieler moderner Dichter ist die Naturwissenschaft kein Fremdkörper, selbst wenn man von so fortschrittsbegeisterten Romanciers wie dem H.G. Wells der Zeitmaschine und Jules Verne absieht. Je jünger das Entstehungsdatum der Gedichte ist, desto weniger scheint das Zusammendenken von Naturwissenschaft und Lyrik ein Tabu zu sein. Das beschränkt sich nicht auf die maschinen- und geschwindigkeitshungrigen Futuristen um Emilio Marinetti oder eine technikbegeisterte sowjetische Poesie, sondern läßt sich ohne weiteres auch an zeitgenössischen Lyrikerinnen und Lyrikern beobachten. Denken Sie etwa an den schwedischen Romanautor und Dichter Lars Gustafsson, der in seinen Versen nicht nur Meteorologen, Ballonfahrern und den Brüdern Orville und Wilbur Wright einen Platz einräumt, sondern in seinem Gedicht "Die Maschinen" auch über die Heronskugel, über die sonderbare pneumatische Kornfege und das Kunstgezeug der Harzer Bergwerke von 1723 zu schreiben weiß. Denken sie auch an die dänische Dichterin Inger Christensen, die ihr Langgedicht "Alphabet" nach den Regeln der für gewöhnlich nur Mathematikern bekannten Fibonacci-Reihe aufgebaut hat. Die Zahlenfolge lautet hierbei 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 und so weiter, jede Ziffer stellt also die Summe der beiden vorangegangenen dar - eine Struktur, der in Inger Christensens "Alphabet" die Anzahl der Verse pro Abschnitt entspricht. Was schließlich den deutschsprachigen Raum angeht, so muß neben Arno Reinfrank Hans Magnus Enzensberger erwähnt werden, der nicht nur Gustafssons Gedichte und den besagten Essay ins Deutsche übersetzt, sondern sich auch selber immer wieder mit der Thematik auseinandergesetzt hat: So stößt man in seiner Lyrik, etwa in dem 1975 publizierten Band Mausoleum auf Gedichte über Gottfried Wilhelm Leibniz, Frederick Winslow Taylor, John von Neumann, Charles Darwin, Carl von Linn und Wilhelm Reich, um nur einige zu nennen, oder auch auf eine lyrische Hommage an den Logiker und Mathematiker Kurt Gödel. Begleitet und beleuchtet wird Enzensbergers poetische Auseinandersetzung mit der Materie immer wieder in essayistischer Form. Wer nun unter den jüngeren und jüngsten Lyrikern suchte, würde ebenfalls fündig werden: Bei Durs Grünbein, der sich mit Medizin und Neurobiologie auseinandersetzt, bei Raoul Schrott, der sich in seinen Grazer Poetikvorlesungen mit den Beziehungen von Quantenmechanik und Poesie beschäftigte und Gedichte zur "Physikalischen Optik" schrieb, bei Ulrike Draesner, aber auch bei Raphael Urweider und seinen unter dem Titel "Manufakturen" zusammengefaßten Texten über Magellan, Galileo Galilei und Louis Pasteur. All dies sind unübersehbare Brückenschläge, ja fast schon regelmäßig begangene Bauwerke über die Kluft hinweg, die Snow Ende der fünfziger Jahre beschrieb und deren Anfänge als haarfeiner Riß man wohl in jener Zeit zu suchen hätte, in der die letzten Exemplare des Universalgelehrten über die Erde zogen, als sich der alles umfassende Begriff Philosophie oder Naturphilosophie, wie es damals auch hieß, noch nicht unwiederruflich in Geistes- und Naturwissenschaften aufgeteilt hatte. Goethe, sicherlich einer jener letzten Universalgelehrten, der mit so viel Ehrgeiz an seiner Farbenlehre arbeitete und den Roman Die Wahlverwandtschaften mit Selbstverständlichkeit nach einem gemeinhin bei chemischen Elementen zu beobachtenden Phänomen benannte, bekam die beginnende Spaltung bereits zu spüren. In einem Kapitel seiner Schriften zur Morphologie der Pflanzen vermerkte er: "Von andern Seiten her vernahm ich ähnliche Klänge, nirgends wollte man zugeben, daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß, daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten." Soweit Goethe. Die genannten Beispiele deuten darauf hin, daß es weit häufiger als allgemein vermutet zu derart freundlichen Begegnungen kommt.

Meine Damen und Herren, Sie werden sich mit gutem Grund fragen, mit welcher Berechtigung ich auf diesem Podium stehe und über die Be rührungspunkte und Schnittmengen von Naturwissenschaft und Poesie spreche. Immerhin wurde ich eingeladen, weil meinen lyrischen Arbeiten eine Affinität zur "Poesie der Fakten" bescheinigt wurde. Es ist also nur recht und billig, wenn ich in meine eigenen Gedichte hineinhorche und sie auf ihre Faktizität hin prüfe, auf Stellen, an denen sie sich mit den Naturwissenschaften berühren. Sieht man einmal von Bildern und Wen dungen ab, die in all den denkbaren Disziplinen wurzeln oder auf Kulturtechniken verweisen - zu nennen wären in dieser Hinsicht etwa die Mu mifizierung, die Schaumweinherstellung, die Seismologie, die Arithmetik wie auch die Erwähnung des Polarreisenden Sir Ernest Shackleton oder des ptolemäischen Almagest -, so bleiben vor allem zwei Gedichte übrig, von denen eines dem Buch, in dem es zu finden ist, den Titel leiht, während das andere an durchaus exponierter Stelle steht, indem es nicht dieses, sondern ein anderes Buch eröffnet. Dieses zweite Gedicht trägt den Titel "frösche":
das zimmer - ein chaos. was noch nicht verkauft ist
formt auf dem boden die schwer zu entziffernde formel

seines bestrebens: drähte, instrumente
und bücher. leere flaschen. seine frau

ist lange fort. und auch der letzte zahn:
"ohne ehrfurcht vorm eigenen körper" wie achim

von arnim meinte, kämpft er mit dem wein
und mit der prämisse: alles leben besteht

aus elektrizität. draußen am see
ist es plötzlich unheimlich still - die frösche geben

einander heimlich das neue codewort durch.



Es wird sinnvoll sein, die beiden Gedichte nicht nur vorzutragen, sondern auch das Material zu präsentieren, das ihnen zugrunde lag und liegt - die Fakten also oder, im Sinne Poes, all die Lasten und Materialien, die mit Riemen und Rädern von der Theatermaschinerie auf und ab bewegt werden. Der die eigene Gesundheit zerstörende Naturforscher, um den es in dem eben gehörten Gedicht geht, heißt Johann Wilhelm Ritter, wurde 1776 in Schlesien geboren und starb 1810 im Alter von nur vierunddreißig Jahren in München. Ritter arbeitete als Privatgelehrter in Jena, verkehrte dort mit den Frühromantikern, lebte und experimentierte in bitterster Armut, und ist heute zwar nicht der Allgemeinheit, wohl aber den Experten bekannt - gilt er doch als Begründer der Elektrochemie und als Entdecker des ultravioletten Lichts. "Er ist im Begriff, die Schöpfung auszusprechen", sagte Clemens Brentano einmal über den kompromißlosen Forscher, dem nach einer Liaison mit einem obskuren italienischen Wünschelrutengänger namens Campetti nicht von allen Seiten solch aufrichtige Bewunderung entgegengebracht wurde. Ritter glaubte in der Elektrizität den Schlüssel, die treibende Kraft der Natur gefunden zu haben; deshalb unternahm er vom Jahre 1800 an zahlreiche ihn zerrüttende Selbstversuche mit der sogenannten Voltaschen Säule. Inspiriert wurde er dazu von den Entdeckungen Luigi Galvanis und dessen wegweisendem Irrglauben, es handele sich bei den berühmten, bei einem Versuch von 1780 beobachteten zuckenden Froschschenkeln um elektrische Entladungen im Körper der Amphibie. Kurz vor dem frühen Tod des Wissenschaftlers, der sich längst dem Opium und dem Branntwein ergeben hatte, der sich von Freunden und Bekannten Groschen für das Allernötigste leihen mußte und getrennt von seiner Familie lebte, hielt ein Freund, Karl von Rauner, die Eindrücke eines Besuchs bei Ritter fest. Hören wir seinen Bericht: "Ich traf Ritter in einem wüsten düstern Zimmer, in welchem alles mögliche: Bücher, Instrumente, Weinflaschen durcheinander lag. Er selbst war in einer unbeschreiblich aufgeregten Stimmung voll verbissener Feindseligkeit. Hinter einander stürzte er, ja stürzte er Wein, Kaffee, Bier und was alles für Getränke in sich, als wenn er in seinem Innern ein Feuer löschen wollte. [...] Dieser betrübende Besuch fällt kurze Zeit vor Ritters Tode. Ich fühlte das tiefste Mitleid, den einst so reich begabten Mann in solcher Qual, in solchem Leib- und Seelenleiden zu sehen." Soweit Rauner.
Vertrauter als Johann Wilhelm Ritters Name ist uns der eines anderen Wissenschaftlers, der 1602, also mehr als zweihundert Jahre vor Ritters Ableben geboren wurde und anders als dieser im stolzen Alter von vierundachtzig Jahren als hochgeachteter Bürger starb. Immerhin brachte es Otto von Guericke, von dem hier die Rede ist, 1626 nicht nur zum Ratsherrn von Magdeburg, sondern zwanzig Jahre später auch zu einem von vier Bürgermeisterämtern der Stadt. Abgesehen von der Luftpumpe, die Guericke Mitte des siebzehnten Jahrhunderts erfand und auf dem in Regensburg abgehaltenen Reichstag vorführte, ist uns vor allem sein berühmter Versuch mit den sogenannten "Magdeburger Halbkugeln" vertraut, die er aus Kupferronden hatte treiben lassen und die auch sechzehn ausgewachsene Pferde nicht auseinanderbringen konnten, sobald man im Innern der aufeinandergepreßten Halbkugeln ein Vakuum erzeugt hatte. Daß die Natur durchaus keinen "horror vacui", die Angst vor der Leere also, kenne, bewies Guericke auch mit anderen, wenngleich weniger spektakulären Versuchen. "guerickes sperling", der im folgenden Gedicht seine titelgebende Rolle spielt, dürfte der Behauptung des Wissenschaftlers, das Vakuum sei "köstlicher als Gold, bar jeden Werdens und Vergehens", allerdings kaum zugestimmt haben:
was ist das, unsichtbar und doch so mächtig,
daß keine kraft ihm widersteht? der kreis
von bürgern rund um meister guericke
und seine konstruktion: die vakuumpumpe,
die auf drei beinen in das zimmer ragt,
vollendet und mit der obszönen grazie
der mantis religiosa. messingglanz,
die kugel glas als rezipient: hier sitzt
der sperling, der wie eine weingeistflamme
zu flackern angefangen hat - die luft
die immer enger wird. vorm fenster reifen
die mirabellen, summt die wärme, wächst
das gras auf den ruinen. an der wand
ein kupferstich vom alten magdeburg.
die unbeirrbarkeit der pendeluhr,
diopter, pedometer, astrolabium;
der globus auf dem tisch, wo eben erst
neuseelands rückenflosse den pazifik
durchschnitten hat, und wie aus weiter ferne
das zähe trotten eines pferdefuhrwerks.
"dieser tote sperling", flüstert einer,
"wird noch durch einen leeren himmel fliegen."

Beide Gedichte, das zeigt auch eine vergleichende Lektüre mit den zeitgenössischen Quellen, halten sich durchaus an die Fakten, ja sie scheinen ihre Faktizität geradezu unterstreichen zu wollen - sei es durch das Zitat Achim von Arnims, mit dem ja ein unmittelbarer Zeitgenosse Johann Wilhelm Ritters in den Zeugenstand gerufen wird, sei es, im zweiten Gedicht, durch den Wissenschaftsjargon suggerierenden lateinischen Namen der Gottesanbeterin, die als mantis religiosa zum Vergleich mit der Vakuumpumpe herhalten muß, sei es schließlich durch die Nennung der verbürgten Arbeitsgeräte Otto von Guerickes: Diopter, Pedometer und Astrolabium. Beide Gedichte führen an, was es "de facto" gab und schildern zum Teil Zustände, von denen glaubhaft auch anderswo berichtet wurde. Zugleich jedoch soll natürlich gerade diese zur Schau gestellte Korrektheit vergessen lassen, was sowohl für den Leser wie für den Autor im Grunde selbstverständlich und Teil des für die Dauer der Lektüre geschlossenen Vertrags ist: Daß nämlich trotz Nennung von nachweislichen Fakten beide Situationen vollkommen fiktiv sind, ja daß sie an den entscheidenden Stellen weit über das hinausgehen, was die Quellen uns mitteilen: Das verschwörerische Froschkonzert dürfte es ebensowenig wie einen unmittelbar ans rittersche Haus angrenzenden See gegeben haben; auch wird der Satz jenes Bürgers, auf den in "guerickes sperling" alles zuläuft - "dieser tote sperling wird noch durch einen leeren himmel fliegen" - kaum je gefallen, ja nicht einmal gedacht worden sein. Augenfällig ist außerdem, daß sich keines der beiden Gedichte mit dem neuesten, mit dem aktuellen Stand der Naturwissenschaften auseinandersetzt; keines bezieht sich, wie von Reinfrank und Snow gefordert, auf die derzeit stattfindenden Entwicklungen. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, Lars Gustafsson zu lauschen, der sich in einem Essay über sein erwähntes Gedicht "Die Maschinen" zu einem ähnlichen Sachverhalt äußert: "Sie werden bemerken", schreibt Gustafsson dort, "daß ich es vermieden habe, eine Maschine aus meiner eigenen Zeit in das Inventar des Gedichtes aufzunehmen. Mit voller Absicht. Was mich hier interessiert, das sind nicht die Maschinen selbst: es ist ihre mechanische Natur. Nicht ihre Funktion, sondern ihr maschineller Charakter. Dieser schwer bestimmbare Zug aber tritt an Maschinen, die veraltet oder zu Kuriosa geworden sind, deutlicher hervor als an jenen, die uns heute umgeben." Dieselbe Erklärung scheint mir auch für die "frösche" und "guerickes sperling" gültig zu sein. Beide Gedichte, so heutig sie sind, arbeiten mit längst nicht mehr zeitgemäßen Fakten. Die Distanz zu den Erkenntnissen und den Ereignissen, die in den Gedichten eine Rolle spielen, erlaubt es erst, sie in ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen, ihren Sinn oder auch: ihren Unsinn zu erkennen, erlaubt, eine scheinbar prophetische letzte Zeile wie jene in "guerickes sperling" einzufügen - ein wohlfeiles Unterfangen, mag man denken, das nicht frei ist vom gönnerhaften Habitus des später Geborenen und damit Klügeren, dem es bei aller Laienhaftigkeit ein Leichtes ist, die antiquierten Fakten zu beurteilen und einzuordnen. Entscheidend ist aber, daß sich nur so, im Nachhinein nämlich, das für uns Zeitgenössische an den historisch entrückten Fakten und Taten herausfiltern läßt, ihr "Charakter", um es mit Gustafssons Terminologie zu sagen - sind doch die wissenschaftlichen, vor allem aber die emotionalen und metaphysischen Fragen, die die Gedichte und ihre Stoffe berühren, auch heute nicht weniger gegenwärtig. Kurz: Es handelt sich um bewußt historische Gedichte, die einen zeilich ungebundenen existentiellen Kern durch mal getreues, mal durch respektloses Arrangieren von Fakten, je nach Notwendigkeit, herauszubilden versuchen. Verlassen sollte man sich auf ihren naturwissenschaftlichen Gehalt in keinem Fall.

Ist die Zeit des Lehrgedichts, einer Lyrik also, der es nicht nur auf die Nutzung, sondern auch auf die Vermittlung von Wissen ankommt, mit anderen Worten vorbei? Wer weiß. Fest steht immerhin, daß es seit den Gedichten, die Goethe im Zuge seiner bereits erwähnten Beschäftigung mit der Morphologie schrieb, kaum noch nennenswerte Versuche in dieser Richtung gegeben hat, wenn man von der politisch-ideologischen Spielart im Sinne Brechts und anderer einmal absieht. Wenig gefragt scheint seitdem zu sein, was einer der großen, wenn nicht der größte Ahnherr des naturphilosophischen Lehrgedichts, Lukrez, mit aller Kunst betrieb und was Horaz nur wenig später in der berühmten Formel "prodesse et delectare" zusammenfaßte: Zu nützen also und gleichzeitig zu ergötzen. Lukrez führt im ersten Buch seines Werks "De rerum natura", "Von der Natur", einen Vergleich aus der Medizin heran:
Wie, wenn die Ärzte den Kindern die widrigen Wermutstropfen
Reichen, sie erst ringsum die Ränder des Bechers bestreichen
Mit süßschmeckendem Seime des goldigfarbenen Honigs,
Um die Jugend des Kindes, die ahnungslose, zu täuschen:
Während die Lippen ihn kosten, verschluckt es indessen den bittern
Wermutstropfen. So wird es getäuscht wohl, doch nicht betrogen,
Da es vielmehr nur so sich erholt und Genesung ermöglicht.
So nun wollt' ich auch selber, weil unsere Lehre den Meisten,
Die noch nie sie gehört, zu trocken erscheint und der Pöbel
Schaudernd vor ihr sich kehrt, mit der Dichtung süßestem Wohlklang
Unsere Philosophie dir künden [...]
(I, 933-946)

Der Grund für den Niedergang des Lehrgedichts ist vermutlich sehr simpel: Der Wirkungsradius der Poesie ist einfach zu gering, als daß man in ihr noch ein taugliches Instrument zur Vermittlung von Wissen sehen könnte. Andere Medien haben sie hierin längst abgelöst. Es wäre aufregend mitzuerleben, wie Stephen Hawking oder andere Gelehrte mit der Gabe, komplizierte Zusammenhänge allgemein verständlich zu vermitteln, ihre Erkenntnisse und Ideen in Hexametern oder Blankversen formulierten, doch werden sie dies aller Voraussicht nach auch in Zukunft in der vom breiten Publikum gewünschten Prosa tun. Längst sind Versmaß und Reim als Hilfsmittel des Erinnerns, die sie einst ja waren, nicht mehr vonnöten; es gibt weitaus effizientere und weniger mühsame Arten des Memorierens von Wissen. Wem es also auf die Popularisierung oder die demokratische Verteilung von naturwissenschaftlichen Kenntnissen ankommt, der tut gut daran, sich nicht der Lyrik zu bedienen, deren Leserschaft zwar konstant, leider aber konstant niedrig ist. Wem daran gelegen ist, von den neuesten medizinischen Entwicklungen zu erfahren, wird ohnehin eher "The Lancet" abonnieren als sich in Gedichtbände vertiefen.
Bedenkenswert ist ferner, daß es weniger die Wermutstropfen als die gezielten Dosierungen goldigfarbenen Honigs sind, die das lukrezsche Werk bis heute zur lebendigen Lektüre machen, sieht man von der schieren Größe des Weltentwurfs einmal ab; es ist weniger die Stichhaltigkeit der Fakten, mit denen Lukrez trotz mancher Kuriosität auf der Höhe seiner Zeit war, als die sprachliche Kraft. Und so berühren uns vor allem jene Stellen, an denen dem Dichter die nüchterne Nennung nicht genügt und er auf das Bild, auf die Metapher zurückgreift. Uns beeindruckt die berühmte Schilderung der athenischen Pest, mit der Lukrez sein Werk abschließt - oder auch die Beschreibung des sogenannten "Avernusproblems". Es geht bei diesem um den westlich von Neapel gelegenen Lago d'Averno, einen Kratersee bei den Phlegräischen Feldern - und insbesondere geht es um das Phänomen, daß dieser See für die Vögel, die ihn zu überfliegen versuchten, den sicheren Tod bedeutete. Lukrez nennt als Erklärung die schwefelhaltigen Ausdünstungen, die er auch in anderen, zum Vergleich herangezogenen Gewässern auszumachen glaubt:
Denn sie bringen Gefahr dem gesamten Geschlechte der Vögel.
Wenn sie sich nämlich beim Flug grad' über den Stellen befinden,
Lassen der Fittiche Segel sie sinken, vergessen des Ruderns
Und kopfüber, erschlafft, mit kraftlos hängendem Nacken
Stürzen sie nieder zur Erde, wenn grade die Stelle derart ist,
Oder ins Wasser, wenn unten vielleicht der Avernische See liegt.
(VI, 741-746)

Nichts dergleichen ist heute am Avernersee zu beobachten. Weder gibt es das von Lukrez eindringlich beschriebene Phänomen, noch läßt sich nachweisen, daß es jemals zu beobachten gewesen ist. Das könnte durchaus auf die veränderten geophysikalischen Gegebenheiten zurückzuführen sein. Einige der Beispiele aber, mit denen Lukrez die Plausibilität seiner Theorie zu untermauern sucht, waren schon zu seiner Zeit fragwürdig. Denkbar, daß Lukrez sich getäuscht hat - oder daß er eine zufällige Beobachtung, etwa einen einzigen toten (vielleicht auch nur landenden?) Vogel zum allgemeinen Phänomen ausgeweitet hat - oder daß jemand anders dies tat und die unzuverlässigen Fakten den Dichter erreichten, der sie aufschrieb. Denkbar ist schließlich auch, daß Lukrez den poetischen Möglichkeiten, die diese Szene in sich trug, schlichtweg nicht widerstehen konnte. Was davon auch immer zutreffen mag, es spielt längst keine Rolle mehr. Die ursprünglichen Fakten mögen antiquiert oder schon immer falsch gewesen sein: Was bleibt, ist allein das ungeheuerliche Bild der im Himmel plötzlich erstarrenden, aus dem Blau in Schwärmen herabstürzenden Vögel.

Was, meine Damen und Herren, könnte es bedeuten, heute auf der "Höhe der Zeit" zu sein? Abstrus erschiene der Versuch, das gesamte Wissen, den umfassenden Forschungsstand unserer Tage überblicken zu wollen. Was zu Lukrez', was selbst zu Goethes Zeiten noch möglich, ja erstrebenswert war, ist längst undenkbar geworden. Zu zersplittert ist das, was man als Weltwissen bezeichnen könnte, und längst hat man sich an die Existenz zahlreicher Wissensnischen gewöhnen müssen, an die Notwendigkeit immer neuer und für den Außenstehenden immer schwerer zu begreifender Spezialgebiete. Wenn P.C. Snow feststellen mußte, daß den Vertretern der von ihm erkannten Kulturen der Dialog schwer fiel, so kann man sich heute fragen, ob nicht das gelungene Gespräch sogar innerhalb dieser Kulturen zu einer Ausnahme geworden ist - das Gespräch zwischen, sagen wir, einem Mikrobiologen und einem Quantenphysiker.
"So wie wir heute Eichendorff oder Mörike als Ausdruck ihrer Zeit empfinden (ohne daß sie die jeweils neuesten Zeitvokabeln benutzten)", schrieb Günter Eich einmal, "ebenso kann sich in einem heutigen, ganz privaten Gedicht für Spätere unsere Zeit unverkennbar ausdrücken." In demselben Essay sprach er sich gegen die Verwendung von Worten wie "Dynamo" und "Telefonkabel" aus. Eich hat sicherlich Recht, und es ließe sich im Umkehrschluß hinzufügen, daß viele Gedichte trotz "Dynamo" und "Telefonkabel" rein gar nichts über ihre Zeit aussagen. Es wäre reine Spekulation zu fragen, ob ein Anhänger eines geozentrischen Weltbildes nicht trotzdem ein gültiges und dem Beginn des einunzwanzigsten Jahrhunderts angemessenes Gedicht schreiben könnte; ich nehme an, es wäre durchaus möglich. Niemand muß wissen, wie ein Dynamo oder ein Telefonkabel funktioniert, um sie in einem Gedicht auf gelungene Art und Weise zu verwenden - und verwendet werden können, ja müssen sie, wenn das Gedicht es erfordert, ebenso wie antiquierte Wörter und solche, die es bislang noch gar nicht gab. Man muß nicht wissen, daß Schnee ein schlechter Wärmeleiter ist und man bei seinen Kristallen zwischen einfachen Formen wie Nadeln und Plättchen und zusammengesetzten Formen wie dem dendritischen Stern zu unterscheiden pflegt, man muß nicht zwischen Merino- und Langwollschafen differenzieren und sich mit ihren Jahreswollerträgen auskennen, um aus beidem eine Metapher, aus einer Herde einen "Blizzard von Schafen" zu machen. Doch läßt sich ebenso sagen, daß die Gefahr, im Klischee und im Altbekannten zu verharren, ohne eine solche Weitung der Kenntnisse größer ist als mit ihr - und daß sich, wer sich einem solchen Wissenszugewinn verweigert, neuer, ungekannter Möglichkeiten beraubt. Neugierde ist eines der Fundamente der Poesie - und es gibt keinerlei Rechtfertigung für den Ausschluß der Naturwissenschaften als Objekt dieser Neugierde.
Die Auseinandersetzung zwischen Snow und Leavis über die "zwei Kulturen" hatte eine viktorianische Vorläuferdebatte: T.H. Huxley, ein Naturwissenschaftler und Anatom, vertrat eine der Snowschen verwandte Auffassung und fand seinen Widersacher in dem Kritiker und Schriftsteller Matthew Arnold. Dieser beharrte in seiner Schrift Literature and Science von 1882 zwar darauf, daß wahre Bildung erst durch Kenntnis der Literatur, nicht zuletzt der klassischen Literatur gewährleistet werden könne. Er gestand aber immerhin zu, daß der Begriff der Literatur ausgedehnt zu werden verdiene und nicht nur die sogenannte "schöne" einschließen dürfe; vielmehr gehöre auch die Lektüre etwa von Isaac Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica oder Charles Darwins The Origin of Species unbedingt dazu. Hören wir nun schließlich noch einmal Arno Reinfrank selbst, der nach Snow noch einmal weit darüber hinaus ging und der das Zentrum ist, um das diese bescheidenen Überlegungen kreisen: "Die Poesie der Fakten", so Reinfrank, "greift auf Mathematik und Physik, auf Biologie, Medizin und die Soziologie zurück sowie auf alle anderen Wissenschaften". Und kein Zweifel: All dies kann für die Poesie, für die Arno Reinfranks wie für die von uns Jüngeren geschriebene, unverzichtbar sein. Der Lyriker - und insofern paßt er gut in eine in unüberschaubar viele Wissensgebiete gegliederte Welt - ist ja per se ein Eklektizist, ein Sammler, der nimmt, was sich ihm bietet und es mit dem verknüpft, was er bereits hat. Als solcher wird er die Kluft zwischen den Kulturen nicht schließen, kann sie aber bewohnbar machen. Vielleicht auch haben die Recht, die sagen, er könne von den Naturwissenschaften nicht nur Material erhoffen, sondern sich auch zu einer Präzision des Denkens, des sprachlichen Aufbaus, der genauen Bildbearbeitung ermutigen lassen, die eine gefühlige Schwammigkeit von vorneherein ausschließen. Vergessen wir aber nicht, wie auch Reinfrank nicht vergaß, daß die Poesie ihre eigenen, von den Naturwissenschaften sehr verschiedenen Mittel hat - und daß sie, bei aller Notwendigkeit des Stoffs, den sie von jeder Disziplin gerne borgt, eine ihrer Wurzeln im skeptischen Denken hat. Das macht sie so frei und für viele, die mit einem "So und nicht anders ist es" auf den Tisch schlagen, für all die Rechthuber und Begriffsstutzer, unerträglich. Für das Gedicht ist nichts "de facto". Alles muß hinterfragt und auf seine Möglichkeiten hin untersucht werden - und auf seine Unmöglichkeiten: Denn auch das Paradox ist eines der vorzüglichsten Instrumente der Lyrik. Mag sie von der Mathematik lernen und leihen - sie darf doch nie eine Gleichung mit nur einer Variablen, nie ganz berechenbar sein. Fatal wäre es, wenn sie über den Fakten vergäße, was sie ausmacht: Die Sprache. Nur dank deren Mittel, nicht aufgrund des Stoffes, wird aus Fakten Poesie, entstehen daraus schließlich, in Umkehrung der vertrauten Formel, die Fakten der Poesie, die auch dann noch auf der Höhe der Zeit sind, wenn die Vögel längst wieder auf ihr Blau vertrauen können, wenn sie hoch oben über den Avernersee gleiten und Richtung Neapel verschwinden.