Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2019

Elisabeth Himpele

Der Fortschritt gebietet…

 

Mein Name ist Viv. Ich bin ein Mensch. Das ist hier, im Jahr 3025 eine Seltenheit. Denn die meisten Bewohner der Erde sind Roboter. Es gibt große und kleine Roboter, männliche und weibliche, reiche und sogar obdachlose. Und sie alle sehen aus wie Menschen. Wer einen Butler braucht, stellt einen Roboter ein. Und es ist keine Seltenheit, dass ein Paar, das keine Kinder bekommen kann, einen der sogenannten Living Plastics adoptiert, das sind Roboter die wachsen, erwachsen werden und irgendwann sogar sterben. In meine Schule gehen mehr Living Plastics als Menschen und auch mein Lehrer ist einer. Und sogar mein bester Freund, Ryan Will, ist ein Roboter. Ryan ist nicht nur mein bester Freund sondern auch mein einziger. Vielleicht weil wir beide Außenseiter sind. Ryan ist der einzige Roboter in meiner Klasse, der kein Living Plastic ist. Und ich bin der einzige Mensch.

Gerade sitze ich an den Hausaufgaben und höre Radio. Plötzlich ertönt mitten in mein Lieblingslied eine Durchsage. Mir ist klar, dass nicht nur in meinem kleinen Radio eine Durchsage kommt, sondern auch in den VR-Musikanlagen der Mittelschicht und den implantierten Musikchips der Black-Eagle-Millionäre. Unsere Währung, die Black Eagles, sind nach dem Gründer der Europaregierung, Adam Eagle, benannt. Seit seiner Regierungszeit ist ganz Europa ein einziges großes Land. Unser momentaner Präsident ist Samuel Green. Und dessen Stimme klingt jetzt aus dem Radio. „Liebes Volk von Europa!“ Er klingt ruhig und bestimmt, wie immer. „Hier spricht euer Präsident Samuel Green. Wir ihr wisst, müssen wir alle dem Fortschritt dienen. Und der Fortschritt gebietet, dass wir Veraltetes zur Seite schaffen, um Platz für Neues zu machen. Aus diesem Grund werden alle Roboter, die keine Living Plastics sind, verschrottet. Wer einen solchen Roboter bei sich beherbergt oder mit ihm zusammen angetroffen wird, hat mit einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe zu rechnen.“ Es klickt. Das Lied geht weiter, doch ich sitze wie erstarrt am Küchentisch. Die Worte von Samuel Green gehen mir nicht aus dem Kopf. Immer wieder spulen sie sich in meinem Kopf ab. „Der Fortschritt gebietet…, Veraltetes zur Seite schaffen…, alle Roboter…, keine Living Plastics…, verschrottet.“ Ryan ist kein Living Plastic! Ich muss ihn warnen! Ich springe so schnell auf, dass mein Stuhl umkippt. Dann rase ich in die Diele, streife die Jacke über und will zur Tür hinausrennen. In diesem Moment klingelt mein Handy. Als ich rangehe, erscheint ein dreidimensionales Hologramm von Ryan über dem Display. „Ryan! Du….“, beginne ich, doch Ryan schneidet mir das Wort ab: „Ich habe es gehört! Ich haue ab! Über den Atlantik in die USA. Ich wollte dir nur noch auf Wiedersehen sagen.“ In die USA? Ryan will nach Amerika? „Ich komme mit!“, sage ich und versuche so sicher wie Samuel Green zu klingen. „Nein, Viv!“, widerspricht Ryan energisch. „ Ich will nicht daran Schuld sein, dass du ins Gefängnis kommst.“ „Quatsch!“, sage ich mindestens genauso energisch. „Wenn du verschwindest, werden sie mich doch zuerst befragen. Schließlich bin ich deine einzige Freundin.“ Volltreffer! Ryan schweigt. Lange. Endlich sagt er: „Na gut. Wir treffen uns heute Abend um zehn am Adam-Eagle-Denkmal im Park." Dann legt er auf. Das Hologramm verschwindet und ich starre auf das schwarze Display. Ich gehe wie betäubt in mein Zimmer. Was soll ich mitnehmen? Ich habe keine Ahnung. Aber Geld werden wir brauchen. Ich öffne meinen hermetischen Mini-Tresor. Er ist ziemlich alt. Im Gegensatz zu den hermetischen Tresoren der Superreichen ist er sehr wohl sichtbar, aber wenigstens funktioniert das Schloss noch. Im Inneren befinden sich meine Ersparnisse: 25 Black Eagles. Das ist alles andere als genug. Ich zögere kurz, dann laufe ich zum Zimmer meiner Eltern, öffne ihren Tresor und nehme mir 75 Black Eagles. Mein schlechtes Gewissen meldet sich, doch sage ich mir, dass ich das Geld dringend brauche. Zurück in meinem Zimmer stopfe ich meinen Schlafsack, meinen Kulturbeutel und so viel Kleidung wie möglich in meinen dunkelbraunen Rucksack. Eigentlich hasse ich das Design, aber den dunkelbraunen Rucksack kann man besser in irgendeinem Gebüsch verstecken als den Hellblauen. Ich beschließe, die gläserne Schnecke als Andenken an zu Hause mitzunehmen. Sie ist klein und nimmt nicht viel Platz weg. Den Rest des Tages liege ich auf meinem Bett und versuche zu schlafen.

Als es 9.30 Uhr ist, schwinge ich mir den Rucksack über die Schulter und laufe zum Park. Ich kann Ryan schon von weitem sehen, denn sein Metallkörper glänzt im Licht einer Straßenlaterne. Ich finde, Ryan sieht aus wie ein Mensch, der mit silbernem Metall überzogen ist. Als ich näher komme, stelle ich fest, dass Ryan ziemlich glücklich aussieht. Er rennt mir entgegen. „Viv! Ich habe eine Fahrgelegenheit für uns gefunden. Allerdings nur bis Paris.“ „Das ist super!“, meine ich. „Und wo ist diese Fahrgelegenheit?“ „Komm mit!“, ruft Ryan fröhlich. Ich folge ihm zu einer Seitenstraße, in der ein heruntergekommener Lastwagen mit der Aufschrift „TFdL Textilien“ steht. „Ernsthaft jetzt?“, frage ich. „Willst du etwa das Luftkissenauto deiner Eltern klauen?“, antwortet Ryan. „Keine Sorge, Bruce fährt uns.“ „Bruce Simpson?“, frage ich. „Du hast ohne Witz unseren Mathelehrer gefragt, ob er uns illegalerweise nach Paris fährt?!“ Ryan zuckt mit den Schultern. „Er muss sowieso nach Paris, weil er nebenberuflich Lastwagen fährt. Das Unterrichten wird nicht gut bezahlt.“ Ich bin skeptisch. „Und du vertraust ihm?“, frage ich. Ryan sieht mich ernst an. „Er ist unsere einzige Chance“, antwortet er. Und damit hat er recht. Ich seufze und klettere in den Lastwagen. Im Inneren ist es dunkel und es riecht nach Wolle und Kunststoff. In hunderten von Kartons stapeln sich Decken, Kleidung und vieles mehr. Im Inneren der Kartontürme wurde ein kleiner Raum geschaffen. Auf dem Boden sind Decken wie ein Teppichboden ausgelegt. Ryan klettert nach mir hinein und ruft Bruce zu: „Wir sind drin!“ „Okay!“, tönt es zurück und die Tür schließt sich automatisch. Die vier Stunden Fahrt verlaufen ereignislos und ich rede mit Ryan. „Wie bist du eigentlich auf die Schule gekommen?“, frage ich, „das Gesetz erlaubt das doch nur humanoiden Lebensformen und Living Plastics. Und du …, naja, so ganz humanoid bist du ja nicht.“ „Ich war der Prototyp für die Living Plastics“, platzt Ryan heraus. Dann senkt er den Kopf. „Oh!“, sage ich. Nur dieses kleine Wort. Mehr fällt mir nicht ein. Ryan hat bei ihrer Erschaffung mitgeholfen und jetzt wollen sie ihn vernichten. „Und warum gehst du erst jetzt zur Schule?“ „Die Behörden“, meint Ryan. „Sie wollten erst alles möglich prüfen. Das hat dann fast fünf Jahre gedauert.“ In diesem Moment ruft Bruce nach hinten: „Wir sind da, Leute! Und …, ach ja, es tut mir leid!“ „Was tut dir leid?“, frage ich verwirrt. Doch dann geht die Tür auf. Ich sehe den Eiffelturm - und einen Polizisten, der mit gezückter Waffe vor uns steht. Bruce hat uns verraten! „Wir teilen uns auf!“, zischt Ryan mir zu. Ich verstehe, was er meint. Der Polizist kann nur einem von uns folgen. Ich renne los. Ryan ebenfalls. Ich springe über Zäune, klettere über Mauern und renne durch Hinterhöfe. Plötzlich höre ich den Schuss. Das Geräusch schallt hart und laut durch die Nacht. Ryan! Der Gedanke peitscht durch meinen Kopf. Das darf nicht wahr sein! Ich drehe abrupt um und renne in die Richtung des Schusses. Schon von Weitem sehe ich das silberne Metall glänzen. Dort, wo bei einem Menschen das Herz wäre, klafft jetzt ein rundes Loch. „Ryan!“ Ich schreie seinen Namen wieder und wieder und rüttle ihn an den Schultern, obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist. Schließlich breche ich schluchzend zusammen und mein Blick fällt auf einen Pullover, der eigentlich in meinem Rucksack sein sollte. Ich stelle fest, dass der Polizist meinen Rucksack durchsucht und den Inhalt einfach auf den Boden geworfen hat. Der Polizist steht immer noch an der Ecke zur Seitenstraße, von wo aus er den Schuss abgegeben hat. Der Polizist! Er hat Ryan getötet! Immer noch schluchzend hebe ich einen spitzen Stein vom Boden auf, renne zum Polizisten und schlage mit dem Stein auf ihn ein. Immer und immer wieder. Ich sehe nicht, wie der Polizist seine Waffe zieht. Ich höre den zweiten Schuss nur und spüre, wie sich die Kugel in meinen Oberkörper gräbt. Ich schreie auf und stolpere rückwärts. Feuer frisst sich in meinen Körper, ich falle. Neben mir liegt die gläserne Schnecke auf dem Boden. Eines ihrer Hörner ist abgebrochen und sie ist rot von meinem Blut. Die Sonne geht unter und ich sterbe in der Stadt der Liebe.

 

Elisabeth Himpele (Schülerin)

Kettlerstr. 21

67065 Ludwigshafen

geb.: 04.01.2007