Im "Stanford Linear Collider"
tanzt man das Stück
vom Teilchen-Kollidieren.
Die Positronen prallen
von hohen Energien aufgeladen
auf Elektronen-Partner.
Wenn Paar und Gegenpaar
zum Abschied auseinanderblitzen,
zeichnet die Uhr
den Vorgang auf.
Der Choreograph
beurteilt und notiert.
Teilchen-Beschleunigung
wird zum Ballett des Wissens.
Man sucht Erklärungen
für Heliummassen weit im Raum
und auch: Warum denn nicht
das Universum auseinanderbricht?
Der Vorhang fällt,
das Licht geht aus,
es leert sich der Theatersaal
nicht schneller als die Enge
der Ausgangstüren
es bestimmt.
In Austin an der Universität
fragt einer
mit der Goldmedaille für Gehirn,
warum wir nicht
den großen Rätseln näherkommen.
Die Lösung muss doch möglich sein.
Das Gedicht findet sich im 6. Band - "Jahrtausendfürbitte" (Berlin 1991) - der "Poesie der Fakten" von Arno Reinfrank. Es besteht aus fünf Strophen, jede Strophe aus sechs Versen in freien Rhythmen. Mit Ausnahme der 4. Strophe, die nur aus einem Satz besteht, werden die übrigen Strophen aus jeweils zwei Sätzen gebildet.
Diese "Symmetrie" der Form, diese "Paarung", entspricht dem binären Inhalt. Wieder wird hier, wie es für die Lyrik Reinfranks typisch ist, ein objektiver Tatbestand oder eine Erkenntnis aus dem Bereich der Naturwissenschaft oder Technik lyrisiert und in Analogie gesetzt zu einem ganz anderen Faktum, zu einem Bild aus dem Alltag oder, wie im vorliegenden Gedicht, aus dem Gebiet der Kunst. Fakten werden Poesie.
Hier werden die dem unbewaffneten Auge unzugänglichen Vorgänge aus dem Mikrokosmos, die Bewegung der Quanten, mit einem Ballett verglichen, dem Inbegriff der Schaulust. Aus einer solchen Verschränkung ergibt sich die Spannung zwischen den Gegensätzen und ihre innere Zusammengehörigkeit. Das Unsichtbare wird mit dem Sichtbaren, das nur unter dem Elektronenmikroskop Erkennbare wird mit einem Bühnengeschehen kontrastiert und gleichzeitig gepaart: Siebenmal kommen Begriffe aus der Physik (A) vor, und siebenmal Begriffe, die mit der Tanzkunst (B) zu tun haben:
A
1. Teilchen
2. Positronen
3. Energien
4. Elektronen
5. Teilchen-Beschleunigung
6. Helium
7. Raum/Universum
B
1. Ballett
2. tanzt
3. Stück
4. Choreograph
5. Ballett
6. Vorhang
7. Ausgangstüren
Die allein der Wissenschaft zuzuordnenden Wörter finden sich in der 1. und letzten Strophe, diejenigen aus der Welt der Bühne in der 2. und 4. Strophe. Also auch hier wieder eine inhaltliche und formale Verschränkung der Kontraste. Die 3. Strophe vereinigt beide Gebiete, Wissenschaft und Theater.
"Paar und Gegenpaar" sind gewöhnlich nicht vereint, es sind Gegensätze, die kollidieren und "auseinanderblitzen" wie Positronen und Elektronen, doch zusammen bilden sie einen mikrokosmischen Reigen. Dem Dichter wie dem Kernphysiker erscheinen sie wie ein Tanz nach einer erstaunlichen und rätselhaften Choreographie.
Generell gibt es zu jedem Teilchen das zugehörige Antiteilchen. Symmetrie scheint hier ein allgemeines Naturprinzip zu sein, wiewohl wir einer kleinen Abweichung davon unsere Existenz verdanken: Als beim Urknall aus reiner Energie Materieteilchen entstanden, gab es einen noch nicht verstandenen geringen Überschuss von Materie gegenüber Antimaterie. Als sich im weiteren Verlauf Teilchen und Antiteilchen gegenseitig vernichteten, blieb deshalb "ein wenig" Materie übrig, eben jene, aus der heute Galaxien, Sterne, Planeten und auch Menschen bestehen.
Die zwei Wörter der Gedicht-Überschrift "Rätselhaftes Ballett" kommen noch einmal vor. Teilchen-Beschleunigung wird zum "Ballett der Wissenschaft". Auch das Rätselhafte taucht am Ende wieder auf, so dass dadurch wiederum eine Art Choreographie sichtbar wird, eine Zusammengehörigkeit disparater Vorgänge als Gleichnis, eine Geschlossenheit, die mit der offenen Fragestellung am Schluss kontrastiert. Die Klügsten unter den Wissenschaftlern, die, die eine Goldmedaille für ihre Gehirntätigkeit verdienten, stehen immer noch trotz aller Erkenntnisse vor offenen Fragen, ja vor Rätseln. Es heißt aber nun nicht: Wir werden schon "den großen Rätseln näherkommen" und werden sie eines Tages lösen, sondern: "Die Lösung muss doch möglich sein". Die Wendung "muss doch" schwächt den Ausdruck zuversichtlicher Erwartung eigentlich eher ab als ihn zu verstärken. Ein leiser Zweifel schwingt mit. Die letzte Zeile klingt geradezu beschwörend.
ECKHART PILICK
Teilchenbeschleuniger wie der Stanford Linear Collider sind Anlagen, in denen Teilchen auf hohe Energien beschleunigt und zur Kollision gebracht werden. Derart aufeinander geschossen, vernichten sie sich gegenseitig in einen mikroskopisch kleinen Feuerball, aus dem wiederum neue Teilchen entstehen. Sie können mit einer aufwändigen Anordnung von Detektoren direkt oder indirekt beobachtet und vermessen werden. Man kann Teilchenbeschleuniger als gigantische Mikroskope betrachten, mit denen man in die allerkleinsten Strukturen der Materie eindringen kann. Paradoxerweise sind immer höhere Energien erforderlich, je kleiner die zu untersuchenden Strukturen sind. Daher steigt der Aufwand kontinuierlich.
Teilchenbeschleunigerexperimente sind eine Quelle immer neuer Erkenntnisse über den Aufbau der Materie - in der Tat ein "Ballett des Wissens", welches mit immer größerer Leidenschaft getanzt wird. Ihm verdanken wir die Erkenntnis, dass die Materie im Prinzip aus Teilchen wie z.B. dem Elektron oder dem Proton besteht, zwischen denen Kräfte wirken, welche durch Austauschteilchen wie z.B. dem Photon vermittelt werden.
Schon lange ist bekannt, dass das Atom nicht, wie die Bezeichnung vermuten lässt, unteilbar ist, sondern aus einem positiv geladenen Atomkern besteht, der von negativ geladenen Elektronen umkreist wird. Der Atomkern ist nun seinerseits zusammengesetzt und besteht aus einer unterschiedlichen Anzahl von Protonen und Neutronen. Den Beschleuniger-Experimenten verdanken wir die Erkenntnis, dass auch Protonen und Neutronen aus noch kleineren, Quarks genannten Teilchen zusammen gesetzt sind. Derzeit vermutet man sogar, dass mit den Quarks noch nicht die allerkleinsten Bestandteile der Materien entdeckt wurden, sondern dass alle Elementarteilchen nur Anregungszustände noch extrem viel kleinerer Einheiten, den so genannten Strings, sind, die man sich wie allerfeinste schwingende Saiten vorstellen kann.
Wieso fragt nun angesichts dieser vielen Erkenntnisse der Träger einer "Goldmedaille für Gehirn", warum wir nicht den großen Rätseln näher kommen? Der Grund ist, dass wir uns beim Annähern an die großen Rätsel gleichzeitig immer mehr von ihnen entfernen. Klingt paradox? Hier ein Vergleich:
Angenommen, Sie entstammen einem entfernten Planeten und sind zu Forschungszwecken auf der Erde gelandet. Ihre erste Aufgabe ist, herauszufinden, um was es sich denn bei diesem rätselhaften schwarzen Band handelt, das sich an einem fernen Horizont gleichmäßig entlang zieht und von den Erdbewohnern Wald genannt wird.
Getrieben von Neugier und Forscherdrang werden Sie sich dem Objekt nähern und bald zu der für uns trivialen Erkenntnis gelangen: Der Wald besteht aus Bäumen! Doch die erste Euphorie angesichts Ihres schnellen Forschungserfolgs verfliegt bald, als Sie feststellen, dass kein Baum dem anderen gleicht. Mit Mühe werden Sie nun gemeinsame Merkmale festzustellen versuchen, die es gestatten, die Bäume verschiedenen Baumarten zuzuordnen. Dabei wird ihr Eifer erneut angespornt, als Sie herausfinden, dass jeder Baum wiederum in sich gegliedert ist, sie erkennen Stämme, Äste, Blätter, Nadeln. Mit großem Forschungseifer stürzen Sie sich auf diese noch kleinen Strukturen, entdecken wiederum kleinere Einheiten und so fort. Nachdem sie auf diese Weise eine Fülle von Detailerkenntnissen gewonnen haben und schließlich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen, erinnern Sie sich an Ihre ursprüngliche Aufgabenstellung. Sind Sie dem Rätsel näher gekommen? Sie müssen sich eingestehen, dass die Dinge wesentlich komplizierter sind, als Sie sich das vorgestellt hatten. Bei jedem Erkenntnisschritt erhielten Sie zwar Antworten, aber gleichzeitig tauchte eine Vielzahl neuer Fragen auf.
Die Natur präsentiert sich uns unendlich mannigfaltig. Bei jedem Eindringen in bisher nicht zugängliche kleinste Dimensionen zeigt sie sich vielfältiger und seltsamer als wir uns das je vorstellen konnten. Deshalb: D i e Lösung wird es nicht geben, aber endlos viele Lösungen sind möglich! Das macht die Poesie der naturwissenschaftlichen Fakten so spannend.
STEFAN HAHNE