Arno Reinfrank

Ausstellungseröffnung Zwischen zwei Welten

Einführung von Dr. Armin Schlechter, PLB Speyer, 21.11.2024

Abb. 1
Abb. 1

Sehr geehrte Damen und Herren (Abb. 1),

als Teil des Landesbibliothekszentrums Rheinland-Pfalz besitzt die 1921 gegründete Pfälzische Landesbibliothek Speyer über hundert schriftliche Nachlässe. Der Umfang der einzelnen Sammlungen reicht vom Inhalt einer Mappe bis zu einer Regallänge von 20 laufenden Metern wie im Falle von Arno Reinfrank. Überwiegend handelt es sich um Nachlässe von pfälzischen Schriftstellern, Historikern, Theologen und anderen Wissenschaftlern. Zu nennen wären beispielhaft Nachlässe oder Anteile von Nachlässen des Geophysikers Georg von Neumayer oder des impressionistischen Malers und Graphikers Max Slevogt. Ganz aktuell konnten wir den Vorlass des in Ludwigshafen geborenen Germanistik-Professor Wolfgang Adam übernehmen, zu dem auch der Verlagsnachlass der wichtigen germanistischen Zeitschrift ‚Euphorion‘ gehört.

Ein literarischer Nachlass umfasst in der Regel das nachgelassene private Schrift- und Dokumentationsgut einer Person, das sich im Laufe ihres Lebens organisch als Sammlung gebildet hat. Wichtige Gruppen sind Lebenszeugnisse in Form von 1. Dokumenten, 2. Werkmanuskripten und Materialsammlungen, 3. eigene Briefe und Briefkonzepte sowie vor allem 4. die eingegangene Korrespondenz. In Deutschland werden Nachlässe von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Künstlern eher von Bibliotheken, Literatur- und Kunstarchiven gesammelt, während die Hinterlassenschaften von Politikern, Verwaltungsbeamten und Wirtschaftsfachleuten eher in die Zuständigkeit von Archiven fallen, ohne dass sich dies aber immer eindeutig trennen ließe.

Wünschenswert, aber gleichzeitig der Ausnahmefall, ist der möglichst vollständige Nachlass, der der Forschung den meisten Nutzen bringt. Dem steht die größere Zahl der Teil- oder Restnachlässe gegenüber. Der spätere Nachlasser entscheidet zu seinen Lebzeiten selbst, welche Materialien er aufbewahrt oder sogar bewusst vernichtet. Auch den Erben kommt eine große Bedeutung zu, die die Unterlagen entweder geschlossen sichern oder aber zerstreuen. Und oft wurde die Zeit des Dritten Reiches aufgrund von Verstrickungen getilgt. Auf der anderen Seite werden viele Nachlässe nach ihrer eigentlichen Übernahme ergänzt. Im Falle von Arno Reinfrank waren in den letzten Jahren fünf verschiedene Briefschenkungen seiner Korrespondenten zu verzeichnen.

Die Grundlage dieser Ausstellung, die auf einer entsprechenden Veranstaltung von vor neun Jahren beruht, ist der große Nachlass von Arno Reinfrank, angereichert um Bücher aus seiner Feder, die sich im Bestand dieses Hauses finden. Lebenszeugnisse (Abb. 2) wie das Austrittszeugnis aus der Oberrealschule an der Leuschnerstraße in Ludwigshafen aus dem Jahr 1949 finden sich hier zwar auch, der Schwerpunkt des Nachlasses liegt aber erwartungsgemäß bei Werktyposkripten und Materialsammlungen. Ebenfalls erwartungsgemäß wird die Überlieferung mit zunehmendem Alter dichter, während die Frühzeit nur wenig bezeugt ist. Ein großer Teil des Nachlasses macht die Korrespondenz aus.

Das im Druck erschienene Werk von Arno Reinfrank ist der öffentlich und leicht zugängliche Teil des Schaffens eines Schriftstellerlebens. Die Überlieferung des Nachlasses ist viel größer und komplizierter. Hier werden Vorstufen abgeschlossener Werke bewahrt, die es möglich machen, den Entstehungsprozess nachzuvollziehen. Darüber hinaus finden sich hier aber auch Typoskripte zu Buchprojekten, die teils weit gediehen sind, zu deren Veröffentlichung es aber zu Lebzeiten nie gekommen ist. Hierzu gehören die ‚Seidenstrasse‘ betitelten Erzählungen, in Amsterdam entstandene und in der Tradition von Heinrich Zilles gleichnamigem Buch untertitelte ‚Hurengespräche‘ (Abb. 3), zu denen der Speyerer Künstler Klaus Fresenius Illustrationen geschaffen hat. Andere Typoskripte von Arno Reinfrank, wie beispielsweise seine verschiedene Städte thematisierenden Reisefeuilletons, sind zwar seinerzeit in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen, aber heute eigentlich nur noch über den Nachlass greifbar (Abb. 4). Eine weitere wichtige Quelle sind Berichte zu Arno Reinfranks Studienreisen, beispielsweise in die Villa Massimo nach Rom oder zu einer Lesereise in die USA und nach Kanada, weiter politische Stellungnahmen. Dazu gehört ein Typoskript (Abb. 5), das sich mit Helmut Kohls Rede ‚Die Intellektuellen und die CDU‘ aus dem Jahr 1973 beschäftigt. In diesem Beitrag thematisierte Kohl das gestörte Verhältnis zwischen den Intellektuellen und der CDU auf der Grundlage der Erfahrungen des Bundestags-Wahlkampfes 1972.

1955 übersiedelte Arno Reinfrank nach London, um Abstand von Deutschland zu gewinnen, das ihm in seinem westlichen Teil als bedrückend und ohne hinreichende Bereitschaft erschien, sich mit der NS-Vergangenheit zu beschäftigen. In einem Typoskript aus dem Jahr 1983, dem Todesjahr seines Vaters, ließ er die Geschichte seiner Familie in der NS-Zeit, aber auch seine frühen beruflichen Erfahrungen Revue passieren. Nach der Schule arbeitete er als Redaktionsbote für die ‚Rheinpfalz‘, wo er aber auch als Journalist angelernt werden sollte. Bis in die Anzeigenabteilung, so Reinfrank, stak das Haus voll mit ehemaligen NSlern, dazu kamen Schifferstädter Katholiken. … Zusammen mit den Hauptinserenten, den Einzelhändlern … und Kirchenvertretern … kam eine typische schwarz-braune Mischung zustande, die sich in den Äusserungen des Blattes weiter niederschlägt, mit bisweilen wohltuenden Abweichungen ins Liberale.

Die Perspektive aus dem Londoner Exil, wo Arno Reinfrank sich anfänglich als Hausmeister und mit Aushilfstätigkeiten mehr schlecht als recht durchschlug, auf die bald darauf entstehenden beiden deutschen Staaten macht den Schriftsteller zu einem Zeitzeugen deutscher Geschichte. Er versuchte, sowohl zur Bundesrepublik Deutschland als auch zur Deutschen Demokratischen Republik Kontakt zu halten, und seine frühen Bücher erschienen im Westen und im Osten, unter anderem im Ostberliner Aufbau-Verlag. Gut dokumentiert sind seine Besuche der Schriftstellerkongresse in Berlin beziehungsweise in Berlin und Weimar in den Jahren 1961 und 1965. Dies machte ihn zum Wanderer zwischen zwei Welten, und aus meiner Sicht ist dies ein ganz zentraler Komplex seines Schaffens.

Am Ostberliner Schriftstellerkongress im Mai 1961 nahmen etwa 500 Personen teil, neben Arno Reinfrank auch Martin Walser und Günter Grass. Letzterer erwies sich aber als deutlicher Kritiker der staatlich gelenkten Literaturszene der DDR (Abb. 6). So äußerte er: Auch in der westlichen Demokratie ist die Freiheit des Wortes gefährdet, aber im Osten ist sie erst gar nicht vorhanden. Reinfrank veröffentlichte nach dem Treffen aphorismenhafte Reminiszenzen, in denen er aufrief, trotz aller ideologischen Unterschiede das Gespräch zwischen Ost und West nicht abreißen zu lassen.

So schrieb er unter anderem: Es gibt freilich Ost-West-Unterhaltungen, die sehen so aus: „Jeder Nicht-Kommunist kann nur ausgemachten Quatsch schreiben“ und „Die Seghers ist ja völlig gleichgeschaltet.“ Oder: „Wer nicht mit einer volksdemokratischen Staatsverfassung einverstanden ist, befürwortet den Atomkrieg.“ Und: „Die leben ja alle in einer Partei-Zwangsjacke.“ Auf dem Kongreß, vor seinen Türen und besonders hinterher in der ungebildeten Presse gab es solche „Gespräche“. Bei ihrem Anhören und Überlesen konnte ich mich nur der Meinung Grass‘ anschließen, der sagte: „Ihr sprecht immer von einem Bürgerkrieg, der in der Bundesrepublik vorbereitet wird; Ich habe das Gefühl, daß bei euch auch ein Bürgerkrieg vorbereitet wird.

Im Mai 1965 luden Anna Seghers und Arnold Zweig (Abb. 7) zu einem ‚Internationalen Schriftstellertreffen‘ in Berlin und Weimar ein, um als Schriftsteller der Deutschen Demokratischen Republik … den 20. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus zu feiern. Bei einem Besuch des ‚Berliner Ensembles‘ traf Arno Reinfrank auf dessen Leiterin Helene Weigel (Abb. 8). Er bekannte sich in einem Redetyposkript zu Humanismus, Demokratie, Frieden und Antifaschismus. In beiden deutschen Staaten gebe es im Bereich der Literatur Kritikwürdiges (Abb. 9):

Vielleicht ist sich der zutiefst ehrliche Max von der Grün nicht ganz bewusst, dass seine Erklärungen nach seiner Lesetournee durch die Deutsche Demokratische Republik von deren Seite als ein Nebelmanöver angesehen werden könnte, mit der er Ecken verhüllen möchte, weil er in der Bundesrepublik lebt. Vielleicht ist man sich auf der Seite der Deutschen Demokratischen Republik nicht genug bewusst, dass die Ausreiseverweigerung für den in meinen Augen nicht weniger grundehrlichen Stefan Heym in der Bundesrepublik als eine übervorsichtige Massnahme angesehen wird, die mehr Schaden dem deutschen Literatur-Dialog zufügt als Gutes tut.

Und weiter: Schon öfters hatte ich zu sagen, dass ich mich weder als ein westdeutscher noch als ein ostdeutscher Schriftsteller sehe, sondern als ein deutscher Autor, der im Ausland lebt. Daraus ergibt sich, dass mir die Annäherungen, das Zueinanderkommen, das Miteinander-Sprechen ein Hauptanliegen sind. Wenn ich also in London mit Freude die Einladung für Berlin annahm und als Gast der Deutschen Demokratischen Republik zu diesem Treffen kam, kam ich gleichzeitig als Gast des ganzen deutschen Volkes, das den Frieden ersehnt und besonders in seiner jüngeren Generation es ablehnt, den vernichtenden Schrecken des Atomkrieges stattfinden lassen. Allerdings endete die Rede doch mit einem deutlichen Bekenntnis zur DDR, der es, aus heutiger Sicht zweifellos falsch, völlig gelungen sei, sich vom Faschismus zu reinigen und die Fundamente für den Frieden zu legen.

Völlig anders berichtete die westdeutsche Presse über das Treffen, wie ein von Arno Reinfrank archivierter Ausschnitt aus der ‚Welt‘ dokumentiert: Das „Internationale Schriftstellertreffen“ in Ostberlin und Weimar hatte – nach den Intentionen seiner Veranstalter – den Zweck, der Zone aus ihrer kulturellen Isolierung herauszuhelfen, ihr in den Augen der Literatenwelt zum Nimbus des „besseren Deutschlands“ zu verhelfen und Westdeutschland als das Land hinzustellen, in dem die Politik des Faschismus fortgesetzt würde. Gleichzeitig sollte das Treffen aber auch einen Wendepunkt in der Kulturpolitik des SED markieren, sollte anzeigen, daß die Partei in Zukunft die Zügel nicht mehr schleifen lassen wird, daß sie gewillt ist, wieder „offensiv“ und „leitend“ in alle literarischen Belange einzugreifen.

Das Beispiel der Materialien zu den beiden Schriftstellerkongressen 1961 und 1965 zeigt, in welchem Maß der Schriftstellernachlass Arno Reinfrank vor dem Hintergrund der deutschen Teilung auch eine zeithistorische Quelle ist. Vor der Folie seiner antifaschistischen Einstellung versuchte er, als Schriftsteller eine vermittelnde Rolle zwischen Ost und West einzunehmen. Dies war allerdings zumindest zum Teil zum Scheitern verurteilt, da insbesondere die DDR versuchte, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Ein anderes literarisches Segment, das im Nachlass einen großen Raum einnimmt und Arno Reinfrank in erster Linie als Journalisten zeigt, sind die verschiedenen Reise- und Städtefeuilletons, die er in Deutschland, aber auch in verschiedenen ausländischen Großstädten verfasst hat. Sie sind zum Teil in ostdeutschen Zeitungen erschienen, aber bis heute nicht gesammelt veröffentlicht worden.

Am zeitlichen Anfang stehen Arbeiten, die Arno Reinfrank von 1957 bis 1961 für ‚Das Feuilleton des sozialdemokratischen Pressedienstes‘ verfasst hat (Abb. 10). Erschienen sind Geschichten, die den Alltag thematisieren, aber auch Erzählungen, die vor dem Hintergrund der NS-Zeit entstanden sind. Dazu gehört die Erzählung ‚Der Mann ohne Zeigefinger‘, in deren Mittelpunkt ein KZ-Überlebender steht, ein jüdischer Schauspieler: „Ich war dort“, sagte er, „ich habe das Wort an meinen Namen angehängt. Alle sollen es wissen. Aber manche wollen es gar nicht wissen. Sie tuen, als überhörten sie es. Auch Engländer. Wenn sie den Schwarzwald loben, sage ich noch nichts. Aber wenn sie von den deutschen Autobahnen zu schwärmen beginnen, dann wiederhole ich ihnen meinen Namen: Maier-Buchenwald …“.

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts besuchte Arno Reinfrank mindestens zweimal Moskau. 1966 veröffentlichte die ostdeutsche Zeitschrift ‚tat‘ unter dem Titel ‚Begegnungen an der Moskwa‘ einige Reisebeschreibungen. Thematisiert wird hier die ablehnende Haltung eines ehemaligen russischen Soldaten gegenüber einem aus dem Westen Deutschlands kommenden Reisenden, aber Moskau wird in Konkurrenz zu Paris auch in zeitbedingten Formulierungen zur Stadt der Liebe stilisiert (Abb. 11): Nehmt zum Beispiel im Restaurant unseres Hotels die Bedienung Natascha. Sieht man ihr volles Gesicht mit den blühenden Wangen und den Kirschaugen, hat man eine wahre Schönheit entdeckt. Dieser Eindruck wird unterstrichen, hat sie sich erst aus ihren Wintersachen gewickelt, die festen Stiefelchen gegen Pumps vertauscht und lässt sie dann ihre Beine in dünnen Nylonstrümpfen sehen … Bringt sie morgens das Frühstück an den Tisch, müsste man aus Eisen gemacht sein, wollte man nicht das gewisse Knistern bemerken, das um sie herum in der Luft schwebt. Dieses Knistern übt auch eine erschütternde Wirkung auf einen Milizmann aus, ein breitschultriger Bursche mit himmelblauen Augen und goldblondem Bartflaum. Eigentlich müsste er vorm Hotel auf den Strassenverkehr aufpassen … Literatur, das zeigt dieses Beispiel auch, ist ihrer Entstehungszeit verhaftet und wird so letztlich zur Literaturgeschichte

Eine große Rolle spielt in Lyrik und Prosa von Arno Reinfrank die Stadt Ludwigshafen, in der er aufgewachsen ist (Abb. 12). 1970 erschienen seine ‚Meditationen über eine Industriestadt‘ mit dem Untertitel ‚Die schwierige Schönheit oder die Schönheit des Schwierigen‘. In dieser von der Industrie dominierten Stadt, so Reinfrank, in dieser Stadt hat jede Pflanze ihre besondere Bedeutung. Sie übersteht die Verschüttung aus der Luft mit einem Staub, der sich erst unterm Mikroskop enträtselt als Asche mit Spuren von diesem oder jenem Chemikal. Der Käfer mit den schwarzen Punkten auf der ultraroten Kuppel seiner Glanzflügelchen durchsteigt auf dem Rosenblatt einen leichten Puderbezug. Die Buschrosen, etwas schlampig mit ihren losen Blättern und Staubgefäß-Büscheln wie ungekämmte Mädchen des Morgens, etwas lilafahl ihre Farben wie ein müdegeküßter Mund, kann nach dem Regenguß an sich schwarze Tropfen nachzählen. Was zur Flora in dieser Stadt zählt, hat sich stark gemacht, um immer wieder dazu zu zählen.

1967 besuchte Arno Reinfrank mit einem Förderstipendium des Landes Rheinland-Pfalz die französische Hauptstadt Paris (Abb. 13); auch hier entstanden wieder Erzählungen mit Reiseeindrücken. Dazu gehört der Bericht über eine Aufführung von ‚Banlieue-Komödianten‘, die mit einer Molière-Aufführung vergeblich versuchten, das Arbeiterpublikum vom Fernsehapparat, der die Bewohner der Pariser Außenbezirke so gut wie ausschließlich mit Kultur versorgt, wieder in die Theatersessel zu locken. In ‚Gott in Frankreich ist arm‘ wird die unbefriedigende wirtschaftliche Situation in Frankreich thematisiert: Man sollte annehmen, der französische Staat, dem 45 Prozent der aktiven Wirtschaft gehören, sei steinreich. Aber in Wirklichkeit ist es nichts weniger als dies und es fällt dem Finanzminister oft im letzten Augenblick schwer, die Beamtengehälter auszuzahlen … Die Geldnot im französischen Staat hat mehrere Gründe. Man bekommt kein Geld, weil man zu ihm kein Vertrauen hat und weil der Franzose prinzipiell nicht früher Steuern bezahlt, bevor er es unbedingt muss. Das französische Steuersystem ist durch die Schuld des Parlamentes veraltet. Der von Reinfrank für diese Reportagen verwendete Briefkopf zeigt, dass er sich zu dieser Zeit selbst in erster Linie als Journalist betrachtete.

In vielen teils unveröffentlichten Typoskripten gab Arno Reinfrank Auskunft über sein Leben und Denken sowie über seine poetische Existenz. Dazu gehört die Abhandlung ‚Einige Äusserungen zum Gedichtemachen‘ (Abb. 14). Ich glaube, so Reinfrank, dass man das Beste leiste, wenn man zwischen dem Alltäglichen und dem Besonderen die richtigen Zusammenhänge entdecken kann, wenn man sie sichtbar macht und dem Leser zeigt, dass beides wie zwei Spiralen miteinander verflochten ist, bald die eine, bald die andere, aber nie eine Seite allein stärker hervorkehrend. Ich kann nicht sagen, dass die Lyrik dafür ausschliesslich geeignet sei, und noch viel weniger, dass in meiner eigenen Lyrik so etwas vorbildlich geglückt wäre. Meine Arbeit, wie auch die Empfíndungen von jedermann, sind unterschiedlichster Art. Einmal fühle ich mich zuversichtlich, dass ich das Leben meistern werde, das andere Mal fühle ich mich von gesellschaftlichen Mächten kontrolliert oder von meiner Gesundheit im Stich gelassen – dann bin ich anders gestimmt.

Diese Reflexionen haben einen Bezug zu Reinfranks Hauptwerk, der von 1972 bis 2001 in zehn Bänden erschienenen ‚Poesie der Fakten‘ (Abb. 15). Im Nachwort des ersten Bandes dieses sich über drei Jahrzehnte erstreckenden Opus magnum heißt es: Es fehlt heute eine Poesie, die den Widerspruch bewältigt, daß moderne Dichter zwar täglich die Fakten der Technik und Forschung als gegeben erfahren und sich ihrer bedienen, aber sich gleichzeitig weigern, von ihnen in der Literatur Zeugnis abzulegen … Statt dessen kennt man als Reaktion auf die Industrialisierung Europas und der Welt eine Fülle von Gefühlsäußerungen, die sich als schmerzgequält bis zur Paranoik darbieten. Und dies, obgleich uns die wissenschaftlichen Erfindungen und ihre Auswertung durch die Industrie, ihre Produktverteilung mittels hochgradig entwickelter Verteilernetze doch weitaus leidloser leben machen sollten als die Menschen vergangener Generationen.

Neben dem Nachlass ist die ‚Poesie der Fakten‘ ebenso Teil der Ausstellung wie andere Werkkomplexe Reinfranks, darunter seine pfälzische Mundartliteratur der späteren Jahre. Dazu gehören das pfälzische Panoptikum ‚Mach de Babbe net struwwlich‘ aus dem Jahr 1981 oder ‚Vun de alde Beehle‘ mit dem Untertitel ‚Dialektgeschichten aus der Ludwigshafener Lokalgeschichte‘ (Abb. 16). Neben humoristischen Beiträgen werden hier in den Erzählungen ‚De erschte Flak-Volldreffer‘ und ‚Ahn fertische Krieg is noch kään Friede‘ der Zweite Weltkrieg und sein Ende thematisiert.

Das zeitlich späteste, sich auf den Dialekt seiner Heimat beziehende Werk ist das bereits postum erschienene ‚Moi Pälzer Werterbuch‘, in dem er nach dem ‚Mutterwitz der Umgangssprache‘ fahndet (Abb. 17). Auch das monumentale Buch ‚Fin de Siècle – die letzten 1000 Tage‘ (Abb. 18) fehlt nicht in der Ausstellung. Es vereinigt, beginnend am 6. April 1997, für die letzten 1000 Tage des 20. Jahrhunderts Texte von Arno Reinfrank mit Bildern von Klaus Fresenius. Am Ende der Ausstellung werden in zwei Vitrinen ausgewählte Werke der inzwischen sieben Preisträger des im Jahr 2005 von Jeanette Koch gestifteten ‚Arno-Reinfrank-Literaturpreises‘ aus dem Bestand des Landesbibliothekszentrums präsentiert. Bewusst liegen in der Vitrine modernere Publikationen dieser Autorinnen und Autoren, die zeigen, dass es sich allesamt um erfolgreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller handelt.

Die Ausstellung kann nur einen kleinen Blick in den sehr großen Nachlass von Arno Reinfrank bieten, der am 28. Juni 2001 in London gestorben ist (Abb. 19). Trotzdem lassen sich hier die Konturen eines Menschen erkennen, der seinen eigenen Weg gesucht und gefunden hat, um mit der deutschen Geschichte umzugehen. So ist er nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch ein Zeitzeuge für den größten Teil des an Katastrophen reichen 20. Jahrhunderts geworden.